Kaum 24 Stunden waren nach dem Lkw-Attentat an der Berliner Gedächtniskirche vergangen, da hatte sich bereits der »Islamische Staat« zu dem mutmaßlichen Anschlag bekannt. Über ihren Propagandakanal “Amak” ließ die Terrormiliz mitteilen, ein »Soldat des Islamischen Staates« habe den Angriff begangen. Zweifel an der Echtheit des Bekenntnisses und Zurückhaltung in der Berichterstattung sind wie immer angebracht, erst recht solange noch nicht einmal Einigkeit über die Identität des Täters besteht.
Das sehen allerdings nicht alle Medien so und beeilen sich selbst, die These von der IS-Täterschaft zu belegen. Das vermeintlich wichtigste Indiz zu dieser Zeit: Ein Ratgeber-Text für Lkw-Angriffe im IS-Propagandaheft “Rumiyah”. Erst im November soll die Terrormiliz dort zu Attentaten mittels Lkws aufgerufen haben. Der “Stern” findet, der Text lese sich wie “das Drehbuch für die Todesfahrt”. Die “FAZ” erkennt in dem Beitrag eine “zynische Vorhersage”. Und selbst die Nachrichtenagentur dpa tickert: “IS-Propaganda gab genaue Anweisungen für Attentat mit Lastwagen.”
Hat der IS also tatsächlich schon im November das Attentat von Berlin angekündigt. Wurde der mutmaßliche Attentäter erst durch den Ratgeber-Text zum Dschihadisten ausgebildet? Unsinn! Denn bei genauerem Hinsehen entpuppt sich der vermeintliche Sensationsfund weder als detaillierte Terror-Anleitung, noch als ernstzunehmende Ankündigung. Stattdessen findet sich in der November-Ausgabe von »Rumiyah« eine inhaltlich ziemlich dünne Ansammlung von dschihadistischen Floskeln und inhaltsleeren Assoziationen rund um das Thema Lkw, wie sie jeder Werbetexter zusammenschreiben kann.
Einer der dschihadistischen Insider-Tipps: Tanken nicht vergessen!
Terroristen und solche, die es werden wollen, erfahren dort nicht mehr als das Offensichtlichste: Fahrzeuge seien »wie Messer sehr leicht zu erwerben«, steht dort zum Beispiel. Große Lkws sind besser als kleine, schwere besser als leichte, breite Straßen besser als schmale und Versammlungen mit vielen Menschen besser als Versammlungen mit wenigen. Außerdem in der vermeintlichen Ansammlung islamistischer Insider-Tipps: Tanken nicht vergessen!
Einen ganz anderen Eindruck als der IS-Text selbst, vermitteln hingegen die Texte vieler Journalisten, die über ihn berichten: Ein “FAZ”-Redakteur übernimmt in seinem Bericht nicht nur jedes noch so belanglose Detail aus dem IS-Ratgeber, sondern auch den alarmistischen Ton der Islamisten. Der “Stern” deutet die Zusammenschreibung von Allgemeinplätzen als “teilweise sehr detaillierte Hinweise für Attentate mit Lastwagen”.
Am eifrigsten aber bemühte sich “Spiegel Online” Verbindungen zu konstruieren, wo keine sind: “Ausdrücklich wiesen die Terroristen auch auf die Möglichkeit hin, einen Lkw zu entführen – genau das hat der Attentäter von Berlin offenbar getan”, heißt es dort. Was der “SpOn”-Redakteur allerdings verschweigt: Der IS-Text erwähnt so ziemlich jede erdenkliche Möglichkeit, sich einen Lkw zu beschaffen. Neben Entführen: Kaufen, Mieten, Kurzschließen, »oder einfach einen Bekannten oder Verwandten fragen.«
An konkreten Fakten, die auf irgendeine Verbindung zum Attentat in Berlin schließen lassen, mangelt es dem IS-Text genauso wie am Nutzen für Terroristen. Aber wahrscheinlich sind Dschihadisten auch gar nicht die Zielgruppe des Magazins. Schon in der Vergangenheit hat der IS mit seinen Terror-Inszenierungen bewiesen, wie geschickt er es schafft, durch das triggern von Journalisten, Massenmedien zur Verbreitung seiner Propaganda zu nutzen.
So wenig Nutzen Texte wie dieser für tatsächliche Terroristen haben, so sehr veranlassen sie doch Medien, die Propaganda des IS zu verbreiten: “Lkw-Angriffe in Berlin und Nizza spiegeln Taktik-Wandel des Islamischen Staates wider”, schreibt der britische “Guardian” noch bevor auch nur der Täter von Berlin identifiziert ist. Auch der “Guardian” beruft sich stattdessen auf den Lkw-Ratgeber-Text der IS-Propagandisten.
Für zukünftige Fälle haben Letztere übrigens schon vorgesorgt: In anderen Publikationen der Terrormiliz warten die passenden “Anleitungen” und “Ankündigungen” für so ziemlich jedes terroristische Szenario darauf, von Journalisten entdeckt zu werden: von Angriffen auf Flughäfen über Cyberattacken bis zu Ratgeber-Artikel für Messerangriffe: “Wenn du ein Messer wählst, achte vor allem darauf, dass es scharf ist”. Auch ihr praktischer Nutzen für Dschihadisten ist gleich null. Darum, dass sie ihre propagandistische Wirkung dennoch entfalten, werden sich Journalisten bei passender Gelegenheit kümmern.