Es ist nicht lang her, da dürfte den meisten der Begriff “Christenverfolgung” allenfalls in der Schule begegnet sein. Dann, wenn die Lehrerin im Geschichtsunterricht das Römische Reich behandelte. Doch die Zeiten haben sich geändert. Spätestens seit den grausamen Berichten über die Verfolgung von Christen unter dem IS, erlebt auch der dazugehörige Begriff eine neue Renaissance.
Von der “meistverfolgten Glaubensgruppe der Welt” spricht zum Beispiel regelmäßig Unions-Fraktionschef Volker Kauder.
Und einmal im Jahr schafft es ein evangelikaler Verein mit seinem “Weltverfolgungsindex” und der Warnung vor “200 Millionen verfolgten Christen” in die Schlagzeilen großer Medien. Warum an der Studie von Open Doors so ziemlich gar nichts stimmt und er dazu die Diskriminierung gegenüber einer anderen Glaubensgruppe (Muslime) befeuert, habe ich hier schon einmal aufgeschrieben.
Trotzdem bleibt die Frage: Sind sie es nun, oder sind sie es nicht? Schließlich werden an vielen Orten der Welt Christen tatsächlich mit dem Tod bedroht: In Syrien und Irak, wo der IS und islamistische Milizen Jagd auf Minderheiten macht; in Nigeria, wo Boko Haram Kirchen niederbrennt oder in Eritrea, wo oppositionelle Christen in den Gefängnissen der Militärdiktatur verschwinden.
Forscher des renommierten und bisher der religiösen und politischen Parteinahme unverdächtigen amerikanischen Pew-Instituts habend das Ausmaß der weltweiten Christenverfolgung jetzt einmal versucht, in Zahlen zu fassen. Das Ergebnis ihrer Anfang Juni veröffentlichten Studie bietet etwas, das man bei der bisherigen Debatte um die Verfolgung von Christen, kaum erlebte: Differenzierungen.
Um dem Phänomen Christenverfolgung auf den Grund zu gehen, haben die Forscher eine andere Studie neu ausgewertet. In der im April dieses Jahres veröffentlichten Untersuchung Global Restrictions on Religion fragten sie religionsübergreifend danach, in welchen Ländern Gläubige im Jahr 2015 Diskriminierungen und Verfolgungen durch staatliche oder soziale Gruppen ausgesetzt waren. Für die aktuelle Neuauswertung fragten sie nun nur nach dem Schicksal von Anhängern des Christentums. Dabei kamen sie zu folgenden mal mehr, mal weniger überraschenden Ergebnissen:
1. Christen sind in vielen muslimischen und nordafrikanischen Staaten Verfolgung ausgesetzt
Der Studie zufolge ist die Diskriminierung von Christen in muslimischen Ländern ein verbreitetes Problem. Wenig überraschend stellen die Forscher fest, Christen hätten “Anfeindungen in vielen der mehrheitlich muslimischen Länder des Nahen Ostens und Nord-Afrikas erlebt”.
In Syrien beispielsweise habe die religiöse Toleranz in der Gesellschaft in dem Maße abgenommen wie “extremistische Gruppen an Einfluss gewonnen” haben. Über Ägypten berichtet Pew von mehreren Fällen, in denen christliche Konvertiten von IS-Anhängern ermordet wurden. Auch insgesamt belegt die Region “Nahost-Nordafrika” in Sachen staatlicher Verfolgung religiöser Gruppen den Spitzenplatz.
2. Die meisten Christen werden in mehrheitlich christlichen Staaten verfolgt
Überraschender fällt hingegen ein anderes Ergebnis der Untersuchung aus: Die Mehrheit der verfolgten Christen lebt in Staaten, die selbst mehrheitlich christlich sind. Die Studienmacher schreiben: “Christen wurden tatsächlich vor allem in mehrheitlich christlichen Ländern schikaniert.”
Als ein Beispiel nennen die Forscher Eritrea. In dem mehrheitlich christlich-orthodoxen Land verwehre der Staat Anhängern der Zeugen Jehovas die Ausstellung von Personaldokumenten. Auch unter den zahlreichen politischen Gefangenen des Landes fänden sich überwiegend Protestanten, genauer: Anhänger evangelikaler Gemeinden und Pfingstkirchler.
Der Umstand, dass die meisten Christen in mehrheitlich christlichen Ländern verfolgt werden, liege allerdings “zum Teil an der großen Zahl mehrheitlich christlicher Länder”. Das bedeutet: Die Zahl verfolgter Christen in christlichen Ländern ist schlicht deshalb insgesamt höher, weil die meisten Christen in mehrheitlich christlichen Ländern leben.
3. Christen sind die meistverfolgte Glaubensgruppe der Welt
Nimmt man die Gesamtzahl der Christen, die in Ländern leben, in denen ihnen Verfolgung droht, als Grundlage, lässt sich anhand der Pew-Studie auch folgende These bestätigen: Christen sind die meistverfolgte Glaubensgruppe der Welt.
Nach Zählung von Pew wurden Christen im Jahr 2015 in insgesamt 128 Staaten und damit in mehr Ländern als jede andere religiöse Gemeinschaft drangsaliert. Allerdings schränken die Studienmacher auch hier ein: Die Ursache dafür, dass in absoluten Zahlen auf keine andere Religionsgemeinschaft so viele verfolgte Anhänger entfallen, liegt schlicht daran, dass sich mit 2,3 Milliarden mehr Menschen auf das Christentum berufen als auf jede andere Religion. Juden könnten beispielsweise nach dieser Zählweise allein schon deshalb nie als meistverfolgte Religionsgemeinschaft gelten, weil es von ihnen nur rund 15 Millionen gibt.
4. Christen sind die am wenigsten verfolgte Glaubensgruppe
Fragt man hingegen nach dem Anteil verfolgter Gläubiger an der jeweiligen religiösen Gesamtpopulation, kommt man zu einem ganz anderen Ergebnis: Nimmt man nicht die absolute, sondern die relative Zahl verfolgter Christen zur Grundlage, lässt sich die These von der meistverfolgten Glaubensgruppe anhand der Pew-Studie nicht belegen.
Die Wissenschaftler haben alle Religionsanhänger, die in Staaten leben, in denen ihnen Verfolgung droht, zusammengezählt und ins Verhältnis zur Gesamtzahl der Gläubigen gesetzt. Im daraus folgenden Ranking landen Christen nach Juden, Hindus, Muslimen, “anderen” und “Volksglauben” nur auf Platz sechs.
Das heißt: Für den einzelnen Christen war die Gefahr, im Jahr 2015 Opfer von Verfolgung zu werden, geringer als für den einzelnen Juden, Hindu oder Muslim. Nimmt man die Gesamtzahl von Religionsanhängern, die in Staaten leben, in denen ihnen keine Verfolgung droht, als Grundlage, lässt sich damit auch folgende These belegen: Christen sind die am wenigsten verfolgte Religionsgemeinschaft.
In der Offenlegung dieses Widerspruchs liegt vielleicht auch die wichtigste Erkenntnis der Pew-Studie. Daran, dass viele Christen weltweit Opfer von Verfolgung werden, gibt es keinen Zweifel. Aber statistische Opfer-Rankings und Verfolgungssuperlative, die das Leid anderer Religionsanhänger relativieren, werden ihrem Schicksal nicht gerecht. Wallah!
[Das Aufmacherbild zeigt Ignatius von Antiochien. Der Legende nach ließ der römische Kaiser Trajan den Bischoff im 2. Jh. n. Chr. aus Syrien nach Rom verschleppen und im Circus Maximus von Löwen zerfleischten. Obwohl der heidnische Trajan die Christenverfolgung im Römischen Reich befürwortet hatte, versöhnte sich die christliche Tradition später wieder mit ihm. Im 6. Jahrhundert soll Papst Gregor der Große ihn sogar durch Gebete aus der Hölle befreit haben.]
4 Kommentare On Wallah?#04 Sind Christen wirklich die meistverfolgte Religionsgemeinschaft?
Hätten Sie auch die folgenden Schlußsätze geschrieben:
“Daran, dass viele MUSLIME weltweit Opfer von Verfolgung werden, gibt es keinen Zweifel. Aber statistische Opfer-Rankings und Verfolgungssuperlative, die das Leid anderer Religionsanhänger relativieren, werden ihrem Schicksal nicht gerecht.”
Wie war das noch mit der unentwegt wiederholten Behauptung, die meisten Opfer islamischen Terrors seien Muslime…? Wird da nicht das “Leid anderer Religionsanhänger” relativiert?
Wo “wiederhole” ich denn “unentwegt” diese Behauptung?
Hier nochmal eine kritische Betrachtung der Pew-Studie. Interessant in dem Zusammenhang.
LG von Ralf
https://jobo72.wordpress.com/2017/07/04/christenverfolgung-neue-studie-arbeitet-mit-fragwuerdigen-kategorien/
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