Berichten Medien zu viel über Flüchtlinge und Migranten? Zu wohlwollend? Oder doch zu diskriminierend? Spätestens seit Beginn der sogenannten “Flüchtlingskrise” im Jahr 2014/ 2015 sind leidenschaftliche Debatten über den richtigen medialen Umgang mit Flucht und Migration allgegenwärtig. Eine Studie des “European Journalism Observatory” hat versucht herauszufinden, wie es wirklich ist.
Unter Leitung der Dortmunder Kommunikationswissenschaftler Susanne Fengler und Marcus Kreutler haben die Forscher Tausende Berichte aus 16 europäischen Ländern und den USA untersucht. Für sechs einzelne Wochen im Zeitraum August 2015 bis März 2018 haben sie in den meisten Ländern die Berichte zweier großer Medien ausgewertet, von denen sie sich erhofften, dass diese ein möglichst großes Meinungsspektrum abdecken. Für Deutschland waren das die Süddeutsche Zeitung und die Frankfurter Allgemeine Zeitung.
Ungarische und deutsche Medien berichten am häufigsten
Die in Kooperation mit der Otto-Brenner-Stiftung veröffentlichte Studie Stumme Migranten, laute Politik, gespaltene Medien zeigt: In Kaum einem anderen Land wird so viel über Flucht und Migration berichtet wie in Deutschland. Innerhalb der sechs untersuchten Wochen veröffentlichten FAZ und SZ insgesamt 1.006 Beiträge zum Thema Flucht und Migration.
Auf noch mehr Beiträge brachten es nur ungarische Medien mit 1.583 Artikeln. Zum Vergleich: In vielen anderen Ländern Europas wurden zur selben Zeit nicht einmal 100 Beiträge veröffentlicht.
Während die hohe Berichterstattung in Ungarn und Deutschland den Verdacht nahelegt, dass in Ländern viel berichtet wurde, die selbst stark von der “Flüchtlingskrise” betroffen waren, bestätigt sich dieser Zusammenhang anderswo nicht: So brachte es die rumänische Tageszeitung Adevarul gerade einmal auf 137 Beiträge. In der italienischen La Stampa erschienen sogar nur 35 Artikel.
Flucht und Migration ist etwas, das “weit weg” stattfindet
Nicht nur bei der Anzahl, auch beim Inhalt der Berichte unterscheiden sich die untersuchten Medien und Länder teils sehr stark. So seien Beiträge über Flucht und Migration in den meisten Ländern eher Teil der Auslandsberichterstattung, berichten die Forscher.
In über zwei Drittel der Berichte werde Flucht und Migration als etwas dargestellt, das “weit weg” stattfinde. Auf ein in etwa ausgeglichenes Verhältnis zwischen Inlands- und Auslandsberichterstattung kommen die untersuchten amerikanischen Medien Washington Post und New York Times.
In Ländern, die selbst viele Flüchtlinge aufgenommen haben, wie Deutschland, Italien oder Griechenland, dominiere hingegen die Berichterstattung über Entwicklungen im eigenen Land. Eine Gemeinsamkeit der meisten europäischen Medien: Flucht und Migration werde vor allem als ein Phänomen beschrieben, das aus dem Nahen Osten und Nordafrika ausgehe. Innereuropäische Migration sei medial kaum ein Thema.
Flüchtlinge oft nur als Statisten
Und noch etwas eint laut der Studie die Berichterstattung der europäischen Medien: Flüchtlinge und Migranten selbst kommen kaum zu Wort. “Migranten und Flüchtlinge spielen in der Berichterstattung als Akteure nur eine untergeordnete Rolle. Sie werden meist als große Gruppen abgebildet, nur selten als Individuen”, schreiben die Studienmacher.
Nur in jedem vierten Bericht finden sie Erwähnung und auch dann meist nur als große und anonyme Gruppe. Als Individuen erkennbar sind Migranten und Flüchtlinge nicht einmal in jedem zehnten Text (8 Prozent). Eine Ausnahme stellten auch hier nur die amerikanischen Medien dar, in denen weit mehr Migranten und Flüchtlinge zitiert werden.
Mehr als doppelt so häufig wie Flüchtlinge und Migranten finden Bürger und zivilgesellschaftliche Akteure in den Aufnahmeländern Erwähnung (18 Prozent). Auch hier heben sich deutsche Medien ab. In keinem anderen Land bekommen Unterstützungsinitiativen so viel Aufmerksamkeit. Bei mehr als jedem dritten (35 Prozent) in der SZ zitierten Akteur handelt es sich um einen Bürger oder eine Institution, die Hilfe für Migranten oder Flüchtlinge leistet.
Vor allem aber eine Gruppe dominiert die Berichterstattung: Politiker. In jedem zweiten Beitrag (51 Prozent) sind politische Akteure die wichtigsten Protagonisten. Dabei dreht sich die Berichterstattung häufig um eine bestimmte Person. “Keine andere Regierung ist international so präsent in der Berichterstattung wie die deutsche, Merkel erscheint um ein Vielfaches öfter als Orban oder Donald Trump”, schreiben die Studienmacher.
Dieser Fokus auf politische Akteure bei gleichzeitigem Ausschluss von Betroffenen stößt bei den Studienmachern auf Kritik: “Wie viele andere Studien stellen auch wir einen starken Fokus auf Regierungen als Hauptakteure in der Berichterstattung fest”, lautet ein Fazit der Studie. Es sei “fraglich, inwiefern die Medien so den berufsethischen Anspruch, eine ‘Stimme für die Stimmlosen’ zu sein, erfüllen können”.