Fordert ein Großteil der muslimischen Schüler in Deutschland einen islamischen Gottesstaat? So und so ähnlich berichten aktuell viele Medien. Doch in der Studie, auf die sie sich berufen, steht davon gar nichts.
Wer in der vergangenen Wochen Zeitung las, konnte schnell den Eindruck gewinnen, Deutschland stünde kurz vor der islamistischen Machtübernahme: „45,8 Prozent der jungen Muslime wollen islamischen Gottesstaat“, erfuhren Leser von Focus Online. „Muslimische Schüler nehmen Koran wichtiger als Gesetze“, bekam das Publikum von BILD zu lesen. „Studie fördert islamistische Tendenzen unter Schülern zutage“, berichtete die Hannoversche Allgemeine. Und die Junge Freiheit titelte: „Islamische Schüler stellen Koran über deutsche Gesetze.“ Das Problem daran: Nichts davon stimmt.
Grundlage der Berichterstattung ist ein schon Ende letzten Jahres veröffentlichte Studie des Kriminologischen Forschungsinstitut Niedersachsen. In dessen „Niedersachsensurvey 2022“ finden sich allerdings weder allgemeine Erkenntnisse über „junge Muslime“ noch über „islamische Schüler“. Stattdessen wurden muslimische niedersächsische Neuntklässler befragt. Um genau zu sein: zwischen 270 und 308 von ihnen (nicht alle haben auf alle Fragen geantwortet). Wenn Medien nun berichten: „45,8 Prozent der jungen Muslime wollen islamischen Gottesstaat“ dann stecken dahinter im Zweifel gerade einmal 124 niedersächsische Schulkinder.
Schon der erste Satz der Studie weißt auf die fehlende Repräsentativität hin
Auf dieser Basis lassen sich weder allgemeine Aussagen über „junge Muslime“ noch über „muslimische Schüler“, nicht einmal über „muslimische Schüler in Niedersachsen“ treffen. Um das zu erkennen, müssen Journalisten keine empirische Sozialforschung studiert haben. Es reicht die Studie, über, die sie berichten, einfach nur zu lesen. Im entsprechenden Kapitel heißt es dort im allerersten Satz: „Die Auswertungen für islamistische Einstellungen können nicht als repräsentativ für muslimische Schüler*innen in Niedersachsen gesehen werden.“
Das bedeutet: Rückschlüsse auf irgendeine Gruppe jenseits der tatsächlich befragten rund 300 muslimischen niedersächsischen Schüler lassen sich aufgrund der geringen Größe der Befragung und der nicht repräsentativen Auswahl der Schüler, nicht ziehen. Einige Medien wie der WDR weisen in ihrer Berichterstattung zwar auf die fehlende Repräsentativität der Untersuchung hin. Von der alarmistischen Schlagzeile „Wenn die Scharia wichtiger ist als deutsche Gesetze“ hält die Redaktion diese Erkenntnis aber auch nicht ab.
faktenfreie Stimmungsmache
Von fehlenden Daten lassen sich auch viele Politiker die Stimmungsmache nicht vermiesen. „Die Vermittlung demokratischer Werte gelingt offensichtlich nicht, damit droht der gesellschaftliche Zusammenhalt ins Rutschen zu kommen“, schlussfolgerte die stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende Karin Prien aus den Aussagen von ein paar Dutzend niedersächsischen Neuntklässlern und kritisierte TikTok und die Jugendarbeit von Moscheegemeinden (nichts davon kommt in der Studie vor).
CDU-Innenpolitiker Christoph de Vries nahm in der BILD die nicht repräsentative Befragung zum Anlass mal wieder „Multikulti“ für „gescheitert“ zu erklären. Und der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll, forderte “mehr Demokratie-Erziehung im Werte-Kanon des Grundgesetzes” und „Null Toleranz“ gegenüber Islamismus.
unklare Islamismus-Definition
Aber nicht nur die mediale und politische Rezeption der Befragung gibt Grund zur Kritik. Auch die Studie selbst lässt Fragen offen. Unklar bleibt zum Beispiel, was die Studienmacher eigentlich unter „islamistischen Einstellungen“ verstehen. Eine entsprechende Definition findet sich nicht in der Untersuchung. Stattdessen verweisen die Studienmacher auf eine frühere Untersuchung des Hamburger „Monitoringsystem und Transferplattform Radikalisierung“ (MOTRA). Dessen Konzept und Fragenkatalog zielt aber allerdings nicht auf die Messung von „Islamismus“, sondern von „Affinität zu Islamismus“ ab.
Wenn nun also die niedersächsischen Forscher mit dem MOTRA-Fragebogen zu „islamismusaffinen Einstellungen“ zu dem Ergebnis kommen, dass 22,2 Prozent der befragten muslimischen Schüler „islamistische Einstellungen“ vertreten, ist das mindestens begrifflich und vermutlich auch konzeptionell ungenau. Was „islamistisch“ und „islamismusaffin“ genau unterscheidet, erfährt man leider in keiner von beiden Studien.
unter Extremismus-Verdacht stehen nur Muslime
Zweifeln lässt sich auch daran, ob der lediglich neun Fragen umfassende Fragenkatalog überhaupt ausreicht, um „islamistische Einstellungen“ zu messen. Zumal viele Fragen nicht auf extremistische politische Einstellungen, sondern auf die Religiosität der Schüler abzielen. Fragen wie „Nur der Islam ist in der Lage, die Probleme unserer Zeit zu lösen“ oder „Die Regeln des Korans sind mir wichtiger als die Gesetze in Deutschland“ hätten Gläubige anderer Religionen möglicherweise ähnlich beantwortet – ohne dadurch unter Extremismus-Verdacht zu geraten.
Einen Vergleich zwischen den Konfessionen lässt die Studie leider nicht zu. Muslimische Schüler sind die einzigen, deren Glaube in der Studie in Verbindung mit Extremismus gebracht wird. Fragen, die auf die extremistischen Einstellungen von christlichen, jüdischen oder atheistischen Schülern abzielen, gibt es in der Untersuchung nicht.
Doppelte (Qualitäts)standards
Dass den niedersächsischen Forschern das Abstempeln von muslimischen Schülern leichter von der Hand geht als bei ihren nicht-muslimischen Klassenkameraden, legt auch ein Vergleich mit anderen Kapiteln der Untersuchung nah. Die Messung von „rechtextremen Einstellungen“ basiert mit 8.536 befragten Schülern wie der Großteil der Untersuchung nicht nur auf einer sehr viel größeren Stichprobe, auch der Fragenkatalog ist sehr viel ausdifferenzierter.
Während den Forschern im Fall von vermeintlich „islamistischen“ Schülern neun Fragen ausreichen, um ein Urteil zu fällen, sind es bei Schülern mit rechtsextremen Einstellungen über 50. Anders als im „Islamismus“-Kapitel werden im „Rechtsextremismus“-Kapitel zudem nicht nur Meinungen, sondern auch reale Handlungen und Straftaten wie Beleidigungen und Gewalttaten abgefragt.
Journalisten und Politiker, die sich wirklich, um die demokratische Verfasstheit von Niedersachsens Schülern sorgen, finden in dem Kapitel jede Menge besorgniserregende (und repräsentative) Erkenntnisse. So stimmt fast jeder sechste niedersächsische Schüler (16,0 Prozent) der Aussage zu: „Die meisten Geflüchteten begehen in Deutschland Straftaten.“ Fast jeder fünfte niedersächsische Schüler (18,2 Prozent) findet es „ekelhaft, wenn sich Homosexuelle in der Öffentlichkeit küssen.“ Davon, dass sich „Personen, die Hartz-IV empfangen, auf Kosten der arbeitenden Menschen ein bequemes Leben machen“, zeigt sich mehr als jeder dritte niedersächsische Schüler überzeugt (37,7 Prozent). Und nicht einmal jeder dritte niedersächsische Schüler (28,7 Prozent) „hätte kein Problem damit, von einer muslimischen Frau mit Kopftuch unterrichtet zu werden“.
Dass diese und viele weitere problematische Entwicklungen in Niedersachsens Schülerschaft kaum öffentliche Empörung hervorruft, verrät vielleicht auch etwas über kritikwürdige Weltbilder: nicht an niedersächsischen Schulen, sondern in deutschen Redaktionen und Politiker-Büros.
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