Vertreter der Bundesregierung und viele Medien hierzulande pflegen zu Muslimen ein – vorsichtig gesagt – ambivalentes Verhältnis. Einerseits fahndet ein ganzes Heer an Journalisten und Politikern penibel nach jeder muslimischen Verhaltensauffälligkeit. Da wird akribisch darauf geachtet, dass die abendländisch verordnete Menge an Flüchtlingen pro Sauna nicht über- und der Anteil an Schweinefleisch in der Kita nicht unterschritten wird. Da werden selbst Handschläge zum Wesensbestandteil christlichen Kulturguts erklärt und monatelang Debatten geführt über Schleier, die es nicht gibt.
Auf der anderern Seite werden jene Muslime, die das Kopf abschlagen, Frauen entrechten, Minderheiten diskriminieren und Extremismus exportieren zur Grundlage eines ganzes Staatswesens erklärt haben, mit Waffen, Ölmilliarden und medialer wie diplomatischer Kritikfreiheit hofiert: die Herrschenden in Saudi Arabien.
Miterleben konnte man den entspannten Umgang mit der Diktatur, die auf dem Demokratie-Index des Economist seit Jahren verlässlich einen der letzten Plätze belegt, zuletzt beim Besuch der Kanzlerin. Als Angela Merkel dem saudischen Despoten Salman bin Abdulaziz einen Besuch abstatte, hätte Medien viel Anlass zu Kritik gehabt: die neusten Waffendeals mit dem Königreich, die tausenden Toten im Jemen, die Unterstützung von Islamisten auf der halben Welt, die Verfolgung von Regimekritikern im Land, die anhaltende Rechtlosigkeit des weiblichen Bevölkerungsansteils…
Selbst die Brigitte freut sich über Frauen-Emanzipation am Golf
Stattdessen machte eine andere Nachricht Schlagzeilen: Während Angela Merkel und ihre Wirtschaftsdelegation die nächsten Milliardendeals einfädelten, meldeten Medien weltweit das Ende des saudischen Vormundschaftsystems. Nach Jahrzehnten der Gender-Apartheid sollte die Zeit der Rechtlosigkeit für die weibliche Bevölkerungshälfte Saudi Arabien endlich der Vergangenheit angehören.
„Saudi Arabiens König lockert Vormundschaftsregeln für Frauen“, meldete beispielsweise die Washington Post. Der britische Independent schrieb „Saudi Arabien lässt Frauen ohne männliche Zustimmung arbeiten und studieren“. Newsweek-Leser erfuhren, dass der saudische König Salman „einen Schritt in Richtung Frauenemanzipation im Königreich gegangen“ sei. In Deutschland informierte unter anderem der Spiegel Online-Ableger Bento darüber, dass „Saudi-Arabien überraschend seine Frauengesetze gelockert hat.“ Und sogar die Frauenzeitschrift Brigitte vermeldete einen „kleinen Schritt in die richtige Richtung!“
Dort wie in dutzenden anderen Artikeln erfährt der Leser dann Folgendes:
„Frauen dürfen in Zukunft in Krankenhäuser gehen und staatliche Angebote wie Sozialleistungen nutzen, ohne die Vormundschaft zu fragen. Schon bald wird es saudi-arabischen Frauen möglich sein, Universitäten ohne Erlaubnis des Mannes zu besuchen. Eine weitere wichtige Errungenschaft: Frauen dürfen zukünftig arbeiten gehen – ebenfalls ohne Genehmigung des Mannes.“
Einziger Beleg der saudischen Frauenemanzipation: Eine Pressemitteilung des Königshauses
Das Problem daran: Die Geschichte von der staatlich genehmigten saudischen Frauenemanzipation ist sehr wahrscheinlich falsch, im besten Fall grundlos optimistisch. Denn Anlass für die Jubel-Meldungen war nicht der Bericht einer Menschenrechtsorganisation oder anderer unabhängiger Beobachter. Stattdessen geht sie zurück auf eine Mitteilung der „Saudischen Menschenrechtskommission“ und damit einer Einrichtung des saudischen Herrschaftsapparats.
Diese berichte Anfang Mai über ein Dekret des saudischen Despoten König Salman vom 17. April. Salman hatte tatsächlich Behörden angewiesen, Frauen nicht mehr ihre Dienste zu verweigern, wenn diese nicht die Zustimmung ihres Vormundes vorweisen können. Doch schon auf dem Papier hatte die Anweisung eine gewaltige Einschränkung: „Es sei denn, es gibt dafür eine rechtliche Grundlage.“ Von dieser Einschränkung ist in vielen Presseberichten allerdings keine Rede.
Im Zweifel übernimmt der Gouverneur selbst die Kontrolle
Um zu verstehen, was von der vermeintlichen Abschaffung des Vormundschaftsystems dann noch übrig bleibt, hilft es, das Vormundschaftsystem zu verstehen: In Saudi Arabien ist jeder Frau gesetzlich ein Mann beigestellt, der sie in den meisten Belangen rechtlich vertritt. Bei diesem Vormund (Wakheel) handelt es sich in der Regel um den Vater, den Ehemann oder den ältesten Bruder. Auch für den Fall, dass es keinen männlichen Verwandten gibt, haben die saudischen Herrscher vorgesorgt: In diesem Fall übernimmt der Gouverneur der jeweiligen Provinz die Vormundschaft. Frauen brauchen die Zustimmung ihres Vormunds bei fast jedem Kontakt mit staatlichen Stellen: wenn sie zur Schule gehen, studieren oder reisen wollen, wenn sie ein Gewerbe eröffnen, beim Beantragen eines Passes oder auch bei bestimmten medizinischen Behandlungen.
Im Schatten dieser gesetzlich vorgeschrieben Frauendiskriminierung hat sich in Saudi Arabien noch eine Art informelles Vormundschaftsystem etabliert: Behörden, aber auch private Arbeitgeber, treffen willkürlich eigene Festlegungen, nach denen sie die Zustimmung des Vormunds von Frauen verlangen. So fordern Arbeitgeber in der Regel das Einverständnis des Vormunds, bevor sie Frauen einstellen, obwohl das Gesetz dies formell nicht vorsieht.
Frauen sollen nur dann diskriminiert werden, wenn der Staat davon weiß
Vom Dekret Königs Salmans betroffen ist bestenfalls dieser informelle Sektor. Und selbst in diesem sieht der König nicht zwingend die Abschaffung aller Anweisungen vor, die Frauen von der Zustimmung ihres Vormunds abhängig machen. Stattdessen sind Behörden dazu aufgerufen, ihre informellen Regeln zu formalisieren: Drei Monate haben sie dem Dekret zufolge Zeit, alle Fälle aufzulisten, in denen sie weiterhin die Zustimmung eines Vormunds verlangen wollen.
Das bedeutet konkret: Im besten Fall wird nicht das staatliche Vormundschaftssystem beendet, sondern lediglich die willkürlichen Formen von Diskriminierung, die über gesetzliche Bestimmungen hinausgehen. Im schlechten und wahrscheinlicheren Fall tritt allerdings nicht einmal das ein. Stattdessen werden willkürliche Diskriminierungen einfach behördlich formalisiert. Eine Abschaffung des Vormundschaft bedeutet das Dekret in keinem Fall.
Für Medien, die genau dies aber berichten, bedeutet das wiederum: Sie haben nicht nur unkritisch eine Meldung aus dem PR-Apparat des saudischen Herrschaftsapparats als ernstzunehmende Nachricht verkauft, sie haben sie auch noch zu dessen Gunsten verfälscht. Schlimmer noch: Glaubwürdige Berichte darüber, dass das Dekret für Frauen bisher irgendwelche positive Auswirkungen hat, gibt es nirgends. Für viele Medien reicht offenbar schon die bloße Verlautbarung eines Regimes, das seit Jahrzehnten Frauen aller Rechte beraubt, um „einen Schritt in Richtung Frauenemanzipation“ auszumachen.
Für viele Medien reicht die PR-Mitteilung einer Diktatur, um eine Verbesserung der Menschenrechte auszumachen
Dabei hätte auch ein Blick auf vergleichbare Ankündigungen in jüngster Vergangenheit ausgereicht, um festzustellen, dass saudische Bekenntnisse zur Frauenemanzipation mit Vorsicht zu genießen sind. Schon 2009 und 2013 kündigte die wahhabitische Herrscherfamilie an, das Vormundschaftsystem abschaffen zu wollen. Praktische Folgen hatten die Ankündigungen schon damals keine.
Zuletzt versprach König Salman vergangenes Jahr im Rahmen seines Reformprogramms „Vision 2030“, die „Rolle der Frauen in unserer Gesellschaft zu stärken.“ Glaubt man Amnesty International, ist es auch in diesem Fall bisher bei der Ankündigung geblieben: „Bis Ende 2016 waren dem Vernehmen nach noch keine Gesetzesreformen oder andere Maßnahmen eingeleitet worden, um diese Ziele zu erreichen“, schreibt Amnesty in seinem Jahresbericht über das PR-Programm Reformprogramm. Stattdessen hat die Menschenrechtsorganisation einen anderen Trend ausgemacht: Trotz aller Versprechungen nehmen Menschenrechtsverletzungen in Saudi Arabien nicht ab, sondern zu, berichtete Amnesty vergangenen Monat.
Menschenrechtsverletzungen nehmen in Saudi Arabien nicht ab, sondern zu
In die Lebenswirklichkeit saudischer Frauen hat es die „Vision 2030“ zwar bisher ebenso wenig geschafft wie die das Dekret zur Vormundschaft. In die Beiträge westlicher Medien hingegen schon. Anlässlich der Kanzlerinnenreise schrieb beispielsweise Carsten Kühntopp für die Tagesschau einen Kommentar, der klingt als habe er ihn komplett aus einer Pressemittlung des saudischen Tourismusministerium abgeschrieben. Unter der Überschrift „Saudi-Arabien – viel besser als sein Ruf“ schreibt er, dass sich „gerade bei der Rolle der Frauen“ viel verändert habe. Der Grund: „Was mit der ‘Vision 2030’ angestoßen wurde, dürfte sich nur schwer wieder zurückdrehen lassen.“ Kritikern wirft er hingegen vor, das Land „gar nicht zu kennen.“
Von diesen Kritikern gibt trotz saudischer PR-Mitteilungen und westlichen Abtipper saudischer PR-Mitteilungen dennoch auch in Saudi Arabien noch einige. Im September 2016 initiierten saudische Frauenrechtlerinnen eine Petition mit 14.000 Unterschriften für die tatsächliche Abschaffung des Vormundschaftssystems. Die saudische Regierung reagierte – indem sie viele der Aktivistinnen ins Gefängnis sperrte. Verlassen dürfen sie diesen nach Ablauf ihrer Strafe übrigens auch nur mit Zustimmung ihres männlichen Vormunds.
[Das Aufmacherbild stammt von der Künsterlin Saffa. Es ist das Logo der Aktion #iammyownguardian, mit der saudische Frauen 2012 die Abschaffung des Vormundschaftsystems forderten.]