
Beim „Mehl-Massaker“ tötete Israels Armee am 29. Februar 2024 über 100 ausgehungerte, wehrlose Menschen – und versuchte anschließend, die Schuld den Opfern in die Schuhe zu schieben. Viele deutsche Medien halfen mit.
Am Morgen nach einem der größten Massaker dieses Krieges lächelt ein süßes Gorillababy von der Titelseite der BILD. Seite eins der Taz füllen Irans Ayatollah Chamenei und Klimaproteste, bei der WELT sind es Wladimir Putin und Atomwaffen. SZ und FAZ erwähnen die Ermordung von 118 Menschen immerhin mit einer knappen Agenturmeldung: „Viele Tote nach Ansturm auf Hilfsgüter in Gaza“. Unter Deutschlands überregionalen Tageszeitungen widmet einzig die Junge Welt dem Blutbad vom 29. Februar 2024 ihren Aufmacher.
Krieg in Nahost und Journalismus in Deutschland. Das ist spätestens seit dem 7. Oktober 2023 ein schwieriges Verhältnis. In einer toxischen Mischung aus Ignoranz, Orientalismus und Staatsräson verstoßen deutsche Redaktionen tagtäglich gegen die Standards ihres eigenen Handwerks – und verzerren die Wirklichkeit in der Region bis zur Unkenntlichkeit. Selten aber prallten die brutale Realität israelischer Kriegsführung und die Irreführungen, mit denen deutsche Medien diese begleiten, so unversöhnlich aufeinander wie am 29. Februar 2024. An wenigen Ereignissen lassen sich die Defizite deutscher Nahost-Berichterstattung so gut dokumentieren wie an dem Verbrechen, das als „Mehl-Massker“ bekannt wurde.

Als israelische Soldaten das Maschinengewehrfeuer auf ausgehungerte, hilfesuchende Menschen eröffneten, verschleierten und verharmlosten deutsche Medien die Ereignisse – oder verschwiegen sie gleich ganz. Während Reporter weltweit die grausame Realität hinter der Zahl von 118 Toten und 760 Verwundeten recherchierten, ignorierten Tagesschau, BILD, Spiegel und viele andere Medien die gut dokumentierte Realität des Massakers und verbreiteten stattdessen die Propaganda der israelischen Armee.
Augenzeugen und Rettungskräfte ließen kein Zweifel am Ausmaß des Massakers
Die Ermordung von 118 Menschen, die am Morgen des 29. Februar 2024 im Norden Gazas die Ankunft eines Hilfskonvois mit Lebensmitteln erwarteten, war nicht nur ein außergewöhnlich abscheuliches Verbrechen. Es war auch außergewöhnlich gut dokumentiert. Nachdem israelische Soldaten am frühen Donnerstagmorgen gegen 4:30 Uhr das Feuer auf wehrlose Menschen eröffneten, verbreitet sich die Nachricht schnell in aller Welt

Über „dutzende Tote“ berichtet Al-Jazeera um kurz nach sechs Uhr morgens. Gegen 7 Uhr morgens sind beim Quds News Network die ersten Augenzeugenberichte zu lesen. „Sobald wir uns dem Hilfskonvoi näherten, haben israelische Panzer das Feuer auf uns eröffnet, als hätten sie uns eine Falle gestellt“, erklärt dort ein Überlebender. Gegen 8 Uhr morgens beschreibt Ismail al-Ghoul die Situation live von vor Ort. Israelische Panzer hätten ein „Massaker“ verübt, berichtet der palästinensische Reporter, der knapp ein halbes Jahr später selbst von Israels Armee getötet wird.
Zwischen 9 und 10 Uhr veröffentlichen sowohl das von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium als auch das von der Fatah kontrollierte Außenministerium Statements zum Angriff. Beide sprechen von israelischen Schüssen auf palästinensische Zivilisten und über 70 Toten. Gegen 10 Uhr morgens schickt WAFA ihre erste Meldung um die Welt. In Berufung auf Rettungskräfte berichtet die palästinensische Nachrichtenagentur, israelische Soldaten hätten mit Maschinengewehren das Feuer auf die Hilfesuchenden eröffnet. Mindestens 104 Menschen seien ums Leben gekommen.

Etwa zur selben Zeit berichtet bei Al-Jazeera Jadallah al-Shafei, Leiter der Pflegeabteilung in Gazas Al-Schifa-Klinik:
Die Situation ist unbeschreiblich […]. Das Krankenhaus wurde mit dutzenden Toten und Hunderten Verwundeten überschwemmt. Die Mehrheit der Opfer erlitt Schussverletzungen und Splitterwunden am Kopf und in den oberen Körperbereichen. Sie wurden durch direkten Artilleriebeschuss, Drohnenraketen und Gewehrfeuer getroffen.
Auch viele westliche Medien berichten zu der Zeit bereits umfassend. Die New York Times zitiert den Direktor des Kamal Adwan-Krankenhauses Dr. Hossam Abu Safia. 12 Leichen und rund 100 Verwundete mit Schussverletzungen seien in sein Krankenhaus eingeliefert worden. Der Kinderarzt wird im Dezember 2024 selbst von israelischen Soldaten verschleppt und gilt seitdem als verschollen.
Auch in der BBC kommt ein Krankenhaus-Vertreter zu Wort. Er spricht bereits von über 100 Schusswaffenopfern. In dem Beitrag wird zudem ein UN-Vertreter zitiert, der sich zu dem Zeitpunkt im Al-Schifa-Krankenhaus aufhielt. Er habe dutzende Pateinten mit Schussverletzungen gesehen. Israelische Truppen hätten „in den dichtesten Teil der Menge geschossen.“
Über den Vormittag berichten Medien in aller Welt. Basierend auf den Aussagen von Augenzeugen, Ärzten, Rettungskräften und Reportern vor Ort beschreiben sie den Vorfall übereinstimmend: Israelische Soldaten haben auf unbewaffnete Menschen geschossen und dutzende Menschen getötet.
Nur in deutschen Medien erfährt man lange Zeit nichts über das Massaker.
Erst als das israelische Dementi vorliegt, berichten deutsche Medien
Das Desinteresse deutscher Medien an einem Massaker, dessen Zahl der Toten einige Quellen gegen Mittag bereits mit über 100 angeben, ändert sich erst, als sich auch die israelische Armee zu dem „Vorfall“ äußert. Auf ihrem Telegram-Kanal veröffentlicht die IDF eine Version der Ereignisse, die sich völlig von allen bisher verfügbaren Informationen unterscheidet. Demnach würden die Toten nicht auf die Gewalt der Armee zurückgehen. Stattdessen hätten Palästinenser versucht die LKWs zu plündern und sich im Gedränge gegenseitig verletzt. Via X/Twitter fügt die IDF wenig später noch die Variante hinzu, wonach LKW-Fahrer die Menschen überfahren hätten.

Erst jetzt erscheinen auch in deutschen Medien die ersten Meldungen mit Bezug zum Thema. Um 13:24 Uhr veröffentlicht die Tageschau in ihrem „Liveblog Nahost“ eine knappe Meldung. Aber nicht etwa das grausame und vielfach gut dokumentierte Massaker an über 100 Menschen ist Anlass für die Berichterstattung. Stattdessen macht die Redaktion die zweifelhafte Ankündigung der IDF, den Vorfall untersuchen zu wollen, zur Schlagzeile.

Es dauert noch einmal weitere vier Stunden bis die Tagesschau dem Ereignis um 17:45 Uhr einen eigenen Bericht widmet. Über 13 Stunden sind nun seit dem Massaker vergangen, in denen sich dutzende Augenzeugen, Ärzte und Rettungskräfte zu Wort meldeten und übereinstimmend ein Bild der Ereignisse zeichneten, wonach die Menschen durch israelische Schüsse ums Leben kamen. Die Tagesschau stellt dennoch die durch keine unabhängigen Quellen belegten Behauptungen Israels in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung, wonach sich die Menschen gegenseitig totgetrampelt hätten. Der Bericht beginnt wie folgt:
Bei Chaos und Schüssen rund um einen Hilfskonvoi im Gazastreifen sind zahlreiche Menschen ums Leben gekommen. Die israelische Armee teilte mit, viele Anwohner hätten sich um einfahrende Lastwagen mit Hilfsgütern gedrängt, um diese zu plündern. Laut den israelischen Angaben wurden mindestens 24 Menschen durch Rempeleien und Getrampel getötet. Zudem gebe es zahlreiche Verletzte. Unabhängig überprüfen lassen sich die Angaben derzeit nicht.
Die Berichterstattung fast aller deutscher Medien ist zu dieser Zeit ähnlich. Verglichen mit vielen ausländischen Medien berichten sie trotz guter Informationslage und hohem Nachrichtenwert lange Zeit gar nicht über das Massaker. Und das nicht etwa, weil sie die Zeit nutzen, um besonders gründlich zu recherchieren und die vorliegenden Informationen gewissenhaft zu prüfen. Im Gegenteil: Während Medien in aller Welt basierend auf zahlreichen Quellen ein umfassendes Bild der Ereignisse zeichnen, verbreiten deutsche Medien ohne jede Überprüfung die Propaganda der israelischen Armee. Die vielfältigen Darstellungen, die Israels Erzählung widersprechen, werden – wenn überhaut – nur in den hinteren Absätzen kurz erwähnt.
Er, dessen Name nicht genannt werden darf
Anstatt – wie für Journalisten eigentlich üblich – mit ihrer Berichterstattung zur Aufklärung des Sachverhaltes beizutragen, bewirken deutsche Medien das Gegenteil: Sie verschleiern die von Israel begangenen Verbrechen. Das lässt sich schon an der Formulierung der Überschriften ablesen. Auffällig im Fall des „Mehl-Massakers“, genauso wie bei vielen anderen israelischen Gewalttaten seit dem 7. Oktober: Der wichtigste Akteur wird dort gar nicht genannt.
- „Zahlreiche Tote bei Ausgabe von Hilfslieferungen in Gaza-Stadt“ (Zeit Online)
- „Tote nach Sturm auf Gaza-Hilfsgüter“ (Süddeutsche Zeitung)
- „Viele Tote bei Hilfsauslieferung“ (taz)
- „Schüsse und Massenpanik in Gaza: Viele Tote und Verletze“ (Berliner Morgenpost)
- „Schüsse und Massenpanik bei Hilfslieferung“ (Tagesspiegel)
- „Verteilung von Hilfsgütern in Gaza eskaliert“ (ZDF heute)
- „Berichte über viele tote Palästinenser“ (Deutschlandfunk)

Der Spiegel ist das einzige größere deutsche Medium, das positiv aus der Reihe schert. Diesen Eindruck kann man zumindest gewinnen, als die Redaktion am Nachmittag des 29. Februar einen Beitrag mit der Überschrift: „Israelische Armee schießt auf Menschenmenge – Berichte über Dutzende Tote“ veröffentlicht. Doch auch der Spiegel bezieht sich mit seiner Überschrift auf eine Statement der israelischen Armee, das die israelische Zeitung Haaretz verbreitete. Demnach hätten sich die Soldaten bedroht gefühlt und daraufhin Warnschüsse in die Luft und auf die Beine von Verdächtigen abgegeben.
Nachdem die IDF erst behauptet hatte, die Toten seien im Gedränge zerdrückt, dann von LKWs überfahren worden, handelt es sich dabei bereits um die dritte israelische Version der Ereignisse innerhalb weniger Stunden. Keine Version ist mit den vielen unabhängigen Äußerungen von Ersthelfern und Überlebenden in Einklang zu bringen. Der Spiegel widmet der fragwürdigen Geschichte dennoch den Großteil seines Berichts.
Aus unabhängigen Informationen werden „Hamas-Angaben, die nicht überprüft werden können“
Während der israelischen Darstellung, egal wie fragwürdig sie auch ist, in fast allen deutschen Medien viel Platz eigeräumt wird, ziehen deutsche Medien Informationen, die der israelischen Erzählung widersprechen, konsequent in Zweifel. Im erwähnten Spiegel-Bericht heißt es zum Beispiel:
Angaben des Hamas-geführten Gesundheitsministeriums zufolge sollen bei dem Vorfall mehr als 104 Menschen getötet worden sein. Es gibt zudem Berichte über zahlreiche Verletzte. Die Angaben des Gesundheitsministeriums lassen sich nicht unabhängig überprüfen.

Die ZDFheute-Nachrichten berichten am Abend des 29. Februar:
In der Stadt Gaza ist es zu Gewalt rund um eine Hilfslieferung gekommen. Die von der Hamas kontrollierte Gesundheitsbehörde warf Israels Armee vor, eine Menge angegriffen zu haben, die auf die Hilfsgüter gewartet habe. Dabei sollen 104 Menschen getötet und 760 verletzt worden sein. Die Angaben ließen sich zunächst nicht unabhängig überprüfen.
Formulierungen wie diese sind aus der deutschen Nahost-Berichterstattung nach dem 7. Oktober 2023 nicht mehr wegzudenken. Auch in fast allen Beiträgen zum „Mehl-Massaker“ sind sie zu finden. Sie enthalten gleich drei folgenschwere Irreführungen:
- Anders als von vielen deutschen Medien suggeriert, gingen Gewalt-Vorwürfe gegenüber Israel in kaum einen Fall seit dem 7. Oktober 2023 allein von der Hamas aus. Auch für Ausmaß und Ablauf des „Mehl-Massakers“ lagen bereits zahlreiche unabhängige Quellen wie Augenzeugen, Ersthelfer, Reporter und Vertreter von in Gaza aktiven NGOs und internationalen Organisationen vor, bevor sich die Hamas überhaupt zu den Ereignissen äußerte.
- Auch bei den Opferzahlen israelischer Angriffe handelt es sich in den meisten Fällen nicht um bloße „Hamas-Angaben“. In aller Regel werden die Zahlen von palästinensischen Krankenhäusern erfasst, die diese dann an das (von der Hamas geführte) palästinensische Gesundheitsministerium weitergeben. Im Fall des Massakers vom 29. Februar 2024 stammte die Zahl von 104 Toten (die später auf 118 erhöht wurde) vom Al-Schifa-Krankenhaus.
- Doch, Angaben können überprüft werden – auch, wenn es um den Krieg in Nahost geht. Reporter weltweit beweisen dies tagtäglich.
Faktenchecks ohne Fakten: Wenn Medien verschleiern statt aufzuklären
Indem sie alle Informationen, die Israels Darstellung widersprechen, zu „Hamas-Angaben, die nicht überprüft werden können“, erklären, kreieren Medien erst jenen Nebel des Krieges, den sie eigentlich lichten sollten. Anstatt zu recherchieren und Informationen und Quellen kritisch zu überprüfen, erklären deutsche Medien seit dem 7. Oktober 2023 den Nahen Osten zu einer Art Black Box. Die Wahrheit über die Gewalt im Nahen Osten herauszufinden? In etwa so unmöglich, als versuche ein Physiker gleichzeitig Ort und Impuls eines Elementarteilchens zu messen. Das einzige, was Medienschaffenden in dieser Situation übrig zu bleiben scheint: Die unterschiedlichen Angaben der „beiden Kriegsparteien“ gegenüberzustellen.
In den Abendnachrichten der Tagesschau vom 1. März 2024 fasst der Sprecher die Ereignisse vom 29. Februar zum Beispiel folgendermaßen zusammen:
Die Terrororganisation Hamas wirft Israel vor, ein Massaker angerichtet zu haben. Nach Darstellung Israels gab es eine Massenpanik. Einige Soldaten hätten sich bedroht gefühlt und geschossen.
Besonders irreführend wirkt diese Mischung aus Verlautbarungsjournalismus und False Balancing in Formaten, die gerade den Anspruch erheben, die Wahrheit herausfinden zu wollen.
„Was geschah beim Konvoi in Gaza?“ fragt die Deutsche Welle am 1. März 2024. Eine Antwort liefert die Redaktion nicht. Stattdessen gibt es auch hier erneut ausführlich die Version der israelischen Armee, wonach die Toten auf ein „chaotisches Gedränge“ zurückgingen. Von den Vorwürfen gegen Israels Armee erfahren DW-Leser nur durch diesen Satz: „Nach Angaben der von der Hamas kontrollierten Gesundheitsbehörde kamen bei dem Vorfall 112 Menschen ums Leben und 760 wurden verletzt.“ Die zahlreichen anderen Quellen, mit denen sich leicht feststellen ließe, was „beim Konvoi in Gaza geschah“, verschweigt die Redaktion.
Unter der Überschrift „Was über die Toten von Gaza-Stadt bekannt ist“ schreibt auch Zeit Online am Tag darauf kaum etwas darüber, was über die Toten bekannt ist, dafür jede Menge darüber, was über sie behauptet wird.
Mehr als 30 Lastwagen mit Hilfsgütern überquerten am Donnerstagmorgen gegen vier Uhr den Grenzübergang Kerem Schalom Richtung nördlicher Gazastreifen. Doch statt dringend benötigte Hilfe zu erhalten, starben mutmaßlich mehr als 100 Palästinenserinnen und Palästinenser. Wie genau es dazu kam, ist noch unklar. Die Untersuchungen laufen. Die israelische Armee spricht von „Warnschüssen“ nach einer Massenpanik, die palästinensische Gesundheitsbehörde von einem „Massaker“.

„Tote an Hilfskonvoi in Gaza: Wann und warum fielen Schüsse?“, fragt die Frankfurter Rundschau am selben Tag. Dutzende unabhängige und gut dokumentierte Aussagen einerseits und die unbelegten Behauptungen der israelischen Armee andererseits fasst die Redaktion folgendermaßen zusammen: „Es steht nun also Aussage gegen Aussage.“
„Wie kam es zur Tragödie am Hilfskonvoi im Gazastreifen mit vielen Toten? ZDFheute hat Augenzeugenberichte und Bildmaterial ausgewertet.“ Der Faktencheck von ZDFheute beginnt zumindest vielversprechend, besteht zu Zweidritteln dann aber auch nur aus der Widergabe von Statements der israelischen Armee. Die versprochene „Auswertung“ von „Augenzeugenberichten und Bildmaterial“ beschränkt sich auf das Verlinken eines zweiminütiges Twitter-Videos und den Verweis auf das Statement eines einzigen Augenzeugen in der BBC. Der Bericht, in dem die ZDFheute-Redaktion zu Beginn noch vorgibt, Angaben nachprüfen zu wollen, endet dann auch konsequenterweise mit dem Satz:
Die Angaben zu Toten und Verletzten beider Seiten lassen sich nicht unabhängig überprüfen.
Doch, Angaben lassen sich überprüfen
Der Satz, wonach sich Angaben nicht nachprüfen lassen, hat sich seit dem 7. Oktober 2023 im deutschen Nahost-Journalismus fest etabliert: als Freifahrtschein für Desinformation aller Art. Dabei verrät ein Blick in andere Länder: Doch, Angaben lassen sich überprüfen. Auch jene aus Nahost. Nur deutschen Medienschaffenden scheint seit dem 7. Oktober 2023 die Fähigkeit zur Recherche weitgehend abhanden gekommen zu sein.
Auch in Zeitungs- und TV-Beiträgen außerhalb Deutschlands wird prominent über die israelischen Darstellungen der Ereignisse vom 29. Februar 2024 berichtet und diese palästinensischen Angaben gegenübergestellt. Aber anders als ihre deutschen Kollegen hören Reporter anderswo an dieser Stelle mit der Arbeit nicht auf.
Weltweit tragen Medien in den Tagen und Wochen nach dem „Mehl-Massaker“ Augenzeugenberichte zusammen, sprechen mit Experten und Mitarbeitern von Krankenhäusern, werten Fotos und Videos aus (u.a. hier, hier, hier, hier, hier, hier und hier). Sie alle kommen zum selben Ergebnis: Der überwiegende Teil der 118 Toten starb durch israelische Gewalt. Die Darstellungen der IDF, wonach die Toten größtenteils auf eine Massenpanik zurückgehen sollen, können nicht stimmen.

Eine der umfassendsten Rekonstruktion des Massakers erscheint am 10. April bei CNN. Die Reporter tragen Aussagen von 22 Augenzeugen sowie dutzende Videos und Fotos zusammen. Zudem sprechen sie mit Forensikern und Ballistikern und können so rekonstruieren, was sich in am frühen Morgen des 29. Februar rund um den Hilfskonvoi im Norden Gazas zutrug. Eine Erkenntnis: Israelische Soldaten eröffneten das Feuer bereits deutlich vor jenem Zeitpunkt, an dem Israels Armee angab, Warnschüsse abgegeben zu haben. Auswertungen der Leuchtspuren der Geschosse würden außerdem belegen: Die Maschinengewehrschützen schossen direkt in die Menschenmenge und nicht, wie von Israels Armee behauptet, über sie hinweg.
Aussagen von Ärzten, die am 29. Februar 2024 die Verwundeten versorgten, stützen diese Erkenntnisse. Die meisten Verletzungen seien das Ergebnis von Waffenbeschuss, erklärt Dr. Mohmmed Mahmoud Eghrad, Notarzt in der Notaufnahme des Al-Schifa-Krankenhauses gegenüber NBC News. Auf „Stoßen oder Trampeln“ könne man sie nicht zurückzuführen. Ähnlich äußert sich Dr Mohamed Salha, Direktor des Al-Awda Krankenhauses gegenüber der BBC. 142 von 176 Patienten an jenem Morgen hätten Verwundungen durch Schusswaffen erlitten.

Nicht zuletzt die übereinstimmenden Aussagen von hunderten Augenzeugen bestätigen den Vorwurf, wonach israelische Soldaten wahllos in die Menschenmenge geschossen haben. Einer ist der 22-jährige Abdel Jalil Al-Fayoumi, der im israelischen 972+-Magazin zu Wort kommt. Er erinnert sich an den Moment, als am Donnerstagmorgen gegen 4:45 Uhr der Hilfskonvoi eintraf und israelische Soldaten das Feuer eröffneten:
Ich konnte die LKWs noch nicht sehen, ich sah nur ihre Lichter und wie die Menschen auf sie zurannten. Plötzlich kam heftiges Gewehrfeuer aus Richtung der israelischen Panzer. Ich wurde von meinem Onkel und Cousin getrennt. Ich hatte keine Ahnung, was passierte. Ich wollte nur überleben und entkommen. Alle schrien und flehten. Auf dem Boden lagen Leichen und Menschen, die nach Hilfe riefen.

In einer Analyse von Al-Jazeera vom 5. März 2024 berichtet der 34-jährige Familienvater Mohammed al-Simry:
Es war so gewaltig, fast jeder wurde getötet, erschossen, verwundet. Ich gehörte zu den sehr wenigen Glücklichen. Ein Schrapnell eines Artilleriegeschosses, das in der Nähe einschlug, traf mich ins Bein. Ich sah wie Leichen über die Straße verstreut lagen. Es war schrecklich.
In der französischen Le Monde vom 9. März 2024 erinnert sich unter anderem der 37-jährige Saleh an den Morgen des 29. Februar:
Ich hatte seit zwei Monaten kein Mehl gesehen. Ein Sack [=25kg] kostet etwa 1.000 USD. Ich beschloss mit einigen Freunden loszugehen. Wir haben uns früh auf den Weg gemacht, vor Sonnenuntergang, und fanden einen Platz am Meer. Dort haben wir ein Feuer angemacht, denn es war kalt. […] Sie schossen willkürlich auf jeden, der dort war. […] Ein etwa 13- oder 14-jähriger Junge rief immer wieder: ‚Ich will nicht sterben, bring mich zum Krankenhaus. Ich versuchte ihn zu tragen, während ich davon lief und nach Hilfe rief. Er starb in meinen Armen. Währenddessen ging das Gewehrfeuer weiter. Es war unbeschreiblich.
Über die Wahrheit des „Mehl-Massakers“ haben die meisten deutschen Medien bis heute nicht berichtet
Von den unzähligen Augenzeugenberichten, den Aussagen von Ärzten und Rettungskräften, den forensischen und ballistischen Beweisen, die Israels Behauptungen unzweifelhaft widerlegen, erfährt das deutsche Medienpublikum kaum etwas. Bis auf wenige Ausnahmen versuchen deutsche Journalisten weder selbst die Ereignisse vom 29. Februar 2024 zu recherchieren, noch berichten sie über die zahlreichen Rechercheergebnisse ihrer internationalen Kollegen.
Nach nur wenigen Tagen ist das Massaker wieder aus den Schlagzeilen deutscher Medien verschwunden. Nur als Mitte März noch einmal Ergebnisse einer neuen „Untersuchung“ bekannt werden, widmen sich einige Medien ein letztes Mal dem Thema. Anlass der Berichterstattung ist aber auch jetzt keine der zahlreichen unabhängigen Recherchen. Stattdessen legt die israelische Armee ihre nunmehr vierte Version der Ereignisse vor.
„Nach dem Tod zahlreicher Menschen bei Hilfslieferungen nach Gaza-Stadt vor gut einer Woche hat sich Israels Armee zu Ergebnissen ihrer Untersuchungen geäußert“, erfahren Zuhörer des Deutschlandfunk.
„Die Überprüfung des Vorfalls habe ergeben, dass die Soldaten nicht auf den Konvoi selbst geschossen hätten, aber ‚auf eine Reihe von Verdächtigen, die sich auf die Einsatzkräfte in der Nähe zubewegten und eine Gefahr für sie darstellten'“, berichtet die Tagesschau.
„Das israelische Militär erklärt, man habe ‚präzise‘ auf ‚Verdächtige‘ geschossen“, heißt es bei ZDFheute.
Ungeachtet aller Fakten verbreiten deutsche Medien ein letztes Mal die unbelegten Behauptungen der israelischen Armee über die Verbrechen vom 29. Februar 2024. In fast allen deutschen Medien endet spätestestens jetzt die Berichterstattung über das „Mehl-Massaker“. Die Wahrheit über eines der größten Massaker dieses Krieges haben Leserinnen und Zuschauer deutschen Medien bis heute nicht erfahren.
Vielen Dank für’s Lesen! Dieser Text hat echt viel Arbeit gemacht und es gibt noch viel mehr an deutscher Nahost-Berichterstattung zu kritisieren. Wie ihr euch denken könnt, gibt es aber kaum deutsche Medien, die für so einen Text bezahlen. Damit ich mir zukünftig noch mehr Zeit für solche Kritik und Analysen nehmen kann, würde ich ich mich deshalb freuen, wenn ihr diesen Blog finanziell unterstützt: einmalig via PayPal oder regelmäßig per Steady. Vielen Dank!
Das Aufmacherbild stammt aus der Reihe „Guernica – Gaza“ des palästinensischen Künstlers Mohammed Al Hawajri. Was es damit auf sich hat, erfahrt ihr in dieser Broschüre.
Dieser Text ist der dritte in einer Reihe von Beiträgen zur deutschen Nahostberichterstattung:
- Einen grundlegende Analyse findet ihr hier: „Medien und Nahost: Anatomie eines Systemversagens“
- Mit medialer Propaganda gegen Gazas Gesundheitssystem habe ich mich hier beschäftigt: „Wenn Journalisten Krankenhäuser sturmreif schreiben“