
Wie stellen deutsche Medien den Krieg in Nahost dar? Ein Blick in 471 Tagesschau-Sendungen seit dem 7. Oktober 2023 zeigt: Vor allem die Gewalt einer Seite wird gerechtfertigt.
Sprache schafft Wirklichkeit. Diesen Satz haben wahrscheinlich die meisten Journalisten unzählige Male in ihrer Ausbildung gehört. Damit einher geht die Verantwortung, mit diesem mächtigen Werkzeug gewissenhaft umzugehen. Schreibe ich von „Flüchtlingen“ oder „illegalen Migranten“, von „Amokläufern“ oder „Terroristen“ von „Familiendrama oder „Ehrenmord“? Von Entscheidungen wie diesen hängt nicht nur ab, welche „Wirklichkeit“ dem Publikum vermittelt wird. Indem sie öffentliche Meinung, das gesellschaftliche Klima oder politische Entscheidungen beeinflussen, tragen Journalisten ganz real dazu bei, neue Wirklichkeiten zu schaffen: etwa, wenn nach medialen Debatten Abschiebegesetze verschärft oder Waffen in den Nahen Osten geliefert werden.
Hamas greift an, Israel reagiert
Wo wir beim Thema wären. Ich wollte wissen: Welche Formulierungen wählt Deutschlands reichweitenstärkste Nachrichtensendung, um über die Gewalt in Israel, Palästina und dem Rest der Region zu berichten? Welche „Wirklichkeit“ vom Krieg im Nahen Osten vermittelt die Tagesschau ihrem Publikum.
Dazu habe ich alle 20-Uhr-Sendungen der Tagesschau zwischen dem 7. Oktober 2023 (Angriff der Hamas auf Israel) und dem 19. Januar 2025 (Beginn der „Waffenruhe“) ausgewertet, insgesamt 471 Sendungen.
Israel wird seit dem Morgen massiv angegriffen von der radikal-islamischen Hamas. Militante Kämpfer der Terrororganisation drangen auf israelisches Staatsgebiet vor. Örtliche Medien berichten von mindestens 150 Toten und mehr als 1000 Verletzten Das Militär reagierte mit Gegenschlägen.
Mit diesen Worten begann am 7. Oktober 2023 die Berichterstattung der Tagesschau zum bis heute andauernden Krieg in Nahost. Für die Gewalttaten der Hamas benutzt die Tagesschau den recht neutralen Begriff „angreifen“, der keine Wertung beinhaltet oder einen Zusammenhang mit vorangegangenen Ereignissen herstellt. Für Israels Gewalttaten benutzt die Tagesschau hingegen den Begriff „reagieren“. Damit stellt sie die Attacken in den Kontext vorangegangener Ereignisse und legitimiert sie damit ein Stück weit.
Die Zuschreibung, wonach es sich bei israelischer Gewalt um eine „Reaktion“ handle, hält die Tagesschau auch in den nächsten Monaten bei. Und das nicht nur, wenn es um die „Reaktionen“ auf den Hamas-Angriff vom 7. Oktober geht. Am 1. Dezember 2023 berichtet die Tagesschau zum Beispiel:
Die Hamas feuerte am Morgen noch vor Ende der Waffenruhe Raketen auf Israel ab. Die israelische Armee reagierte.
Von 111 „Reaktionen“ entfallen zweidrittel auf Israel
Zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 wird in der Tagesschau 111-mal mit Gewalt „reagiert“. Berücksichtigt habe ich bei der Zählung auch Synonyme („erwidern“, „antworten“, „zurückschlagen“) und deren substantivierte Varianten („Reaktion“).
In 77 und 111 Fällen sind damit israelische Angriffe gemeint. Das heißt: Berichtet die Tagesschau im Kontext des Krieges im Nahen Osten über eine „Reaktion“, ist damit in mehr als Zweidritteln aller Fälle (69 Prozent) eine Gewalttat Israels gemeint.
Weit abgeschlagen auf Platz zwei landet der Iran. Dessen Angriffe wurde in der Tagesschau in 10 Fällen als „Reaktion“ bezeichnet. Meist handelte es sich dabei allerdings um Zitate iranischer Politiker und nicht um Äußerungen durch die Tagesschau-Sprecherinnen oder Reporter.
Auf Platz 3 landen die USA. Deren Angriffe auf Ziele im Jemen und im Irak werden in der Tagesschau 6-mal als „Reaktion“ auf vorangegangene Angriffe bezeichnet. In den Abendnachrichten vom 24. Februar 2024 klingt das zum Beispiel so:
Die USA und Großbritanniens attackierten vergangene Nacht erneut Stellungen der Huthi-Miliz im Jemen Damit reagierten sie auf weitere Angriffe der Huthi auf Handelsschiffe.
Bei palästinensischer Gewalt handelt es sich laut Tagesschau nie um „Reaktionen“
Während israelische Gewalt oft pauschal und auch Monate nach dem 7. Oktober von der Tagesschau als „Reaktion“ bezeichnet wird, ist das Bild, das die Tagesschau von palästinensischen Angriffen vermittelt ein ganz anders.
Gewalttaten der Hamas oder anderer palästinensischer Gruppen hat die Tagesschau in 471 Sendungen seit dem 7. Oktober 2023 in keinem einzigen Fall als „Reaktion“ auf vorangegangene israelische Angriffe bezeichnet. Das liegt übrigens nicht daran, dass die Tagesschau weniger über palästinensische Angriffe berichten würde. Im Gegenteil: Gemessen an den Opferzahlen tut sie das extrem überproportional (mehr dazu in einem späteren Beitrag).
Angesichts zehntausender israelischer Angriffe in den letzten 15 Monaten hätten für die Redaktion auch jede Menge Gelegenheiten bestanden, palästinensische Gewalt sprachlich in den Kontext früherer Ereignisse zu setzen. Sie tat dies allerdings kein einziges Mal.
Für die Tagesschau ist nicht die Tat ausschlaggebend, sondern der Täter
Wie Angriffe im Nahen Osten bezeichnet und welches Bild damit beim Zuschauer erzeugt wird, scheint für die Tagesschau also nicht vom jeweiligen Ereignis und dessen konkreten Umständen abzuhängen. Ausschlaggebend ist vor allem, wer die Tat begeht.
Während palästinensische Angriffe ohne jeden Kontext oder Vorgeschichte scheinbar einfach so passieren, stellt die Tagesschau israelische Angriffe als Konsequenz vorangegangen palästinensischer Gewalt dar. Diese pauschale Zuschreibung formuliert die Tagesschau auch immer wieder ganz explizit. Ein Jahr Krieg in Nahost, bei dem auch zehntausende Palästinenser ihr Leben verloren, fasst die Tagesschau am 7. Oktober 2024 zum Beispiel wie folgt zusammen:
Die Terroristen ermorden im Süden Israels fast 1200 Menschen und verschleppen über 240 in den Gazastreifen. Israel reagiert mit Luftangriffen.
Auch bei der Berichterstattung über Angriffe der Hisbollah auf Israel und Israels Angriffe auf den Libanon übernimmt die Tagesschau diese pauschale Aufgabenverteilung von vermeintlicher Aktion und Reaktion. Am 6. August 2024 erfährt das Tagesschau-Publikum zum Beispiel:
Seit Monaten feuert sie [die Hisbollah] gen Israel, das israelische Militär reagiert.
Dass die Hisbollah ihrer Angriffe im Verlauf des Krieges immer wieder als „Reaktion“ auf Israels Krieg in Gaza, aber auch die zahlreichen Angriffe Israels auf den Libanon bezeichnete, schlägt sich in der Berichterstattung der Tagesschau nicht nieder.
Genauso verhält es sich bei Angriffen auf den und aus dem Jemen. Auch hier ist es ausschließlich Israel, das „reagiert“. Am 22. Dezember 2024 berichtet die Tagesschau zum Beispiel
Seit Beginn des Kriegs im Gazastreifen vor mehr als einem Jahr greifen die Huthis Ziele in Israel mit Drohnen und Raketen und Schiffe im Roten Meer an. Israel reagiert mit massiven Angriffen auf den Jemen.
Kein einziges israelisches „Massaker“
Während die Tagesschau den Begriff „Reaktion“ also überwiegend zur Bezeichnung von Israel ausgehender Gewalt vorhält, findet sich in der Berichterstattung auch ein Begriff, der fast ausschließlich verwendet wird, um gegen Israel gerichtete Gewalt zu bezeichnen. In den Abendnachrichten der Tagesschau taucht er erstmals am 12. Oktober 2023 auf:
Israel reagiert weiter mit massiven Gegenangriffen auf die Massaker der Hamas an der israelischen Zivilbevölkerung.
Insgesamt 16mal ist zwischen dem 7. Oktober 2023 und dem 19. Januar 2025 in der Tagesschau von einem „Massaker“ die Rede. In 10 Fällen ist damit der Angriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober gemeint. In 6 Fällen werden israelische Angriffe so bezeichnet. Allerdings handelt es sich dabei ausnahmslos um Zitate etwa von Überlebenden oder Politikern. Zu eigen macht sich die Tagesschau den Begriff „Massaker“ nur, wenn die Gewalt von Palästinensern ausgeht.
Kein einzigen mal benutzen Sprecher oder Reporterinnen der Tagesschau selbst den Begriff „Massaker“ als Bezeichnung für israelische Angriffe. Und das, obwohl Israels Armee etwa durch Menschenrechtsorganisationen hunderte solche Ereignisse in den vergangenen 15 Monaten angelastet werden. Die Tagesschau hätte also jede Menge Gelegenheiten gehabt, um israelische Kriegsverbrechen als „Massaker“ zu bezeichnen.
Ich wollte wissen: Vermeidet die Tagesschau wirklich konsequent den Begriff „Massaker“ für israelische Angriffe? Um sicherzugehen, habe ich zusätzlich zu den 20-Uhr Nachrichten auch noch alle Einträge im täglich erscheinende „Nahost-Liveblog“ auf der Website der Tagesschau durchsucht. Hier berichtet die Tagesschau weit umfassender als in ihren Abendnachrichten.
Das Ergebnis ist eindeutig: Insgesamt 196-mal machte sich die Redaktion dort den Begriff „Massaker“ zu eigen (ohne Zitate). Gemeint war ausschließlich der Hamas-Angriff vom 7. Oktober 2023 mit 1.139 Toten, darunter 639 Zivilisten. Die unzähligen von der israelischen Armee begangenen Massaker mit zehntausenden zivilen Toten bezeichnete die Tagesschau kein einziges Mal als solche.
Vielen Dank für’s Lesen! In den nächsten Wochen und Monaten sollen noch viele weitere Auswertungen zur Nahost-Berichterstattung der Tagesschau und anderer Medien erscheinen. Wie ihr euch denken könnt, gibt es aber kaum deutsche Medien, die für so etwas bezahlen. Deshalb würde ich mich freuen, wenn ihr diesen Blog finanziell unterstützt: einmalig via PayPal oder regelmäßig per Steady. Vielen Dank!