Wenn in der Türkei wählt wird, verfallen deutsche Medien in einen kollektiven Anti-Erdoğan-Rausch. Und tatsächlich gibt es vieles zu kritisieren: die immer größer werdende soziale Ungleichheit, der Umbau des parlamentarischen Systems, die Syrien-Politik und und und. Auch die vermeintlich drohende Islamisierung steht bei vielen deutschen Medien hoch im Kurs der Erdoğan-Kritik. Einer der vermeintlichen Beweise hierfür: die strikten Alkoholgesetze des Landes.
In einem ausführlichen Artikel zum Rauschzustand der türkischen Gesellschaft stellt „DIE WELT“ zum Beispiel erschrocken fest:
„Nach Angaben der OECD trinken die Türken durchschnittlich gerade einmal 1,5 Liter Alkohol pro Jahr. Zum Vergleich: Der europäische Durchschnitt liegt bei 10,7 Litern.”
Dafür kann man die Türken entweder beglückwünschen oder eben etwas von Islamisierung lallen:
„Kritiker werfen der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP vor, mit dem Antialkoholgesetz der schleichenden Islamisierung der Türkei den Weg zu bereiten. … Der Säkularismus, die strikte Trennung von Staat und Religion, seit der Staatsgründung von 1923 in der Verfassung verankert, werde durch solche Gesetze ausgehebelt“
Oder noch etwas platter: “Den Islamisten ist Alkoholkonsum ein Dorn im Auge.” Die Gesetze, die den Verkauf und Konsum von Alkohol einschränken und auf die der Artikel verweist, gibt es in der Türkei wirklich. Nur, gibt es sie eben nicht nur dort.
„Seit dem 9. September 2013 ist es in der Türkei verboten, auf öffentlichen Plätzen und in Parks Alkohol zu trinken.“
Das stimmt. Und damit befindet sich die Türkei in einer Reihe mit vielen anderen Ländern wie Finnland, Irland, Österreich, Portugal, Schweden… Eigentlich gibt es in fast allen EU-Staaten solche Einschränkungen. Die reichen vom Alkoholverbot in Schulen (Italien) bis zum vollständigen Verbot, Alkohol im öffentlichen Raum zu trinken (Norwegen).
„Zwischen 22 Uhr und sechs Uhr morgens ist der Alkoholverkauf sogar komplett verboten.“
Solche Zustände gibt es ansonsten nur in Saudi Arabien – und zum Beispiel in Schweden, Norwegen, Finnland und Schottland. Ganz besonders übel mitgespielt wird all jenen, die erst einmal ein Bier zum wach werden brauchen, in Irland. Dort kann man sich erst ab 10.30 Uhr betrinken.
„Die Getränke dürfen durch die Ladenfenster nicht zu erkennen sein“
Für Besoffene, denen jede zusätzlichen Ladentreppe zum lebensgefährlichen Hindernis werden kann, sicherlich eine schlimme Sache. Noch schlimmer wäre da nur noch, wenn der Staat komplett entscheiden würde, wo Alkohol verkauft werden darf und die entsprechenden Lizenzen nur an ausgewählte „Liquor Shops“ verteilt. Das ist zum Beispiel in den Niederlanden, Finnland, Norwegen, Schweden und Großbritannien der Fall.
„Auch im Fernsehen ist Alkoholreklame strikt untersagt.“
Das sind ja Zustände wie in – Schweden. Dort ist sogar jegliche Werbung für Alkohol untersagt. Auch in der Schweiz und in Finnland darf für Hochprozentiges nicht geworben werden.
„…große Warnhinweise, wie man sie sonst auf Zigarettenschachteln finden kann, prangen auf Flaschen und Dosen.“
Damit dürften der Türkei bald portugiesische Zustände drohen. Denn dort werden schon längst Schwangere und Autofahrer mit solchen Hinweisen vor dem Konsum von Alkohol gewarnt. Das EU-Parlament befasst sich zurzeit sogar mit einem Antrag, der Warnhinweise in der ganzen Europäischen Union vorschreiben soll. Zumindest in dieser Hinsicht steht einem EU-Beitritt der Türkei dank Erdogans Politik also nichts entgegen.
3 Kommentare On Im Rausch gegen Erdoğan
gerade durch Zufall entdeckt. Großartiger Blog! Danke & weiter so!
Die Kritik an der reaktionären Politik Erdoğans ist nicht immer gleichzusetzen mit einer Kritik an den Islam oder an den Werten des Islams orientierte Gesetzesbeschlüsse. Alkoholverbote oder Einschränkungen als Beispiel für die repressive Politik der Erdoğan-Regierung heranzuziehen ist schwach, das stimmt. Jedoch gibt es darüber hinaus viele andere aussagekräftigere Kritikpunkte, bei denen es um wichtigere Fragen nach Freiheitsräumen in Meinungsäußerungen, Entfaltungsmöglichkeiten und gesellschaftlicher Teilhabe geht, die sich nicht um kulturell verankerte Konsumgewohnheiten drehen.
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