
Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. Diese Binsenweisheit haben nicht nur Journalisten unzählige Male gehört. Zu Recht. Medien sollen und müssen skeptisch gegenüber den Informationen von Kriegsparteien sein. Vor allem, wenn diese mit Anschuldigen aufwarten, die jede Vorstellungskraft übertreffen.
Aber was, wenn die täglichen Pressemitteilungen nur deshalb so irreal anmuten, weil der Krieg selbst längst alle Grenzen überschreitet? Was, wenn Skepsis gegenüber den Schreckensmeldungen dazu führt, den realen Schrecken eines Krieges zu verschweigen? Was, wenn sich hinter der Warnung vor der „Propaganda“ der einen Seite in Wahrheit die Propaganda der anderen Seite verbirgt?
Nach Angaben des von der Terrororganisation Hamas kontrollierten Gesundheitsministeriums, die nicht unabhängig überprüft werden können…
Sätze wie dieser begegnen Leserinnen und Leser deutscher Nahost-Nachrichten fast täglich. Ob in Live-Tickern, Reportagen oder den Abendnachrichten: Die Erzählung von den “Hamas-Angaben, die sich nicht nachprüfen lassen ” gehört wahrscheinlich zu den populärsten dieses Krieges. Und zu den folgenreichsten: Mit Verweis auf deren vermeintliche Unglaubwürdigkeit kommen die Todeszahlen, die das Palästinensische Gesundheitsministerium in Gaza täglich veröffentlicht, in vielen Berichten gar nicht mehr vor. Die Folge: Das wahre Ausmaß von Krieg, Leid und Zerstörung in Gaza wird für die Öffentlichkeit unsichtbar.
Die Propaganda von der „Hamas-Propaganda“
Schuld daran sei die Hamas. Schließlich manipuliere diese die Zahl palästinensischer Opfer, um Israel vor der Weltöffentlichkeit in ein schlechtes Licht zu rücken. Auch das erfährt man regelmäßig in deutschen Medien.
Was ist also dran an der Erzählung von den “Hamas-Angaben”, die man nicht nachprüfen kann und am besten auch nicht verbreiten sollte? Dieser Text wird zeigen: nichts. Weder handelt es sich bei den vom Palästinensischen Gesundheitsministerium (MOH) veröffentlichten Opferzahlen um “Hamas-Angaben”, noch haben sich diese im aktuellen Krieg oder in früheren Kriegen als unzuverlässig herausgestellt.
Im Gegenteil: Selbst zu Zeiten, als israelische Bomben bereits einen Großteil des Gesundheitssystems und Verwaltungsapparates des Gazastreifens zerstört hatten, bemühten sich Ärzte und Mitarbeiter des Palästinensischen Gesundheitsministerium mit großem Einsatz darum, ihre Toten präzise zu dokumentieren.
Woher wir das wissen? Weil die Zahlen des Gesundheitsministeriums in Gaza vielfach überprüft wurden: Von Reportern, Wissenschaftlerinnen, NGO-Mitarbeiter und vielen anderen – nur deutsche Journalisten waren nicht darunter. Die entledigen sich stattdessen seit dem 7. Oktober 2023 mit der Floskel von der angeblichen Nicht-Überprüfbarkeit ihrer eigenen journalistischen Verantwortung und stellen damit nicht nur die Glaubwürdigkeit der Zahlen aus Gaza infrage, sondern vor allem ihre eigene.
Propaganda verbreiten viele Medien auch wenn und gerade weil sie auf die angeblichen “Propaganda-Zahlen der Hamas” verzichten. Denn beim Versuch der vermeintlichen Manipulation der Hamas zu entgehen, gingen Medienschaffende in Wahrheit der Propaganda Israels auf den Leim.
Als Journalisten “Hamas-Angaben” bedenkenlos vertrauten
Wer sich auf die Suche nach dem Ursprung der Legende von den unglaubwürdigen “Hamas-Angaben” begibt, erlebt zunächst eine Überraschung. Sie ist viel jünger als man denkt. Seit 2007 hat die Hamas die Verwaltung des Gazastreifens inne (oder das, was Israels Besatzung und Belagerung davon übrig lässt). Vier größere Kriege führte Israel bis zum 7. Oktober 2023 dort. Immer stammten die offiziellen palästinensischen Todeszahlen aus demselben Verwaltungsapparat wie heute. Doch Begriffe wie “Hamas-Angaben” lassen sich in der Berichterstattung über frühere Kriege genauso wenig finden wie größere Zweifel an deren Glaubwürdigkeit.

Im Gegenteil. Anderthalb Jahrzehnte lang schrieben Journalistinnen ganz selbstverständlich von „palästinensischen Angaben” oder “Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums”, wenn sie über die Opfer israelischer Angriffe im Gazastreifen berichteten. Oftmals ließen sie die Quellenangabe gleich ganz weg, ganz so, als handle es sich bei den Todeszahlen aus Gaza um gesicherte, zumindest aber verlässliche Fakten.
Selbst die BILD machte sich die Zahlen der Hamas zu eigen
Bei der dreiwöchigen israelischen Militäroffensive, die am 27. Dezember begann, waren mehr als 1300 Palästinenser getötet und massive Schäden im Gazastreifen angerichtet worden.
Das schrieb BILD am 25. Februar 2009 über Israels Operation “Gegossenes Blei”. Dass es sich bei der Zahl – in heutiger Sprache – schon damals um “Hamas-Angaben” handelte, verschwieg die Zeitung ihren Lesern in diesen genauso wie in späteren Kriegen.
“Mehr als 160 Tote” titelte die FAZ am 23. November 2012, nachdem Israel eine Woche lang den Gazastreifen bombardiert hatte. Ein Verweis darauf, dass man diese “Hamas-Zahl” nicht selbst überprüft hatte, findet sich in dem Text nicht.
“Seit Beginn der Militäraktion wurden mindestens 26 Palästinenser und ein israelischer Soldat getötet”, berichtete die Tagesschau am 18. Juli 2014 zu Beginn mehrwöchiger israelischer Angriffe, die über 2000 Menschen das Leben kosteten. Und auch noch am 9. Mai 2023 titelte der Bayerische Rundfunk bedenkenlos: “Zwölf Tote bei israelischen Luftangriffen auf Gaza.”

Zur Ehrenrettung von Spiegel, BILD und Co. muss gesagt werden: Mit ihrer unkritischen Übernahme der Zahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums waren deutsche Journalisten nicht allein. Ob andere westliche Medien wie BBC, CNN oder Le Monde, internationale Organisationen wie Vereinte Nationen und Rotes Kreuz, oder die amtlichen Veröffentlichungen westlicher Regierungen: Die Zahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums genossen bis zum 7. Oktober 2023 Vertrauen in aller Welt.
Zahlen aus Gaza waren stets verlässlich
Das Urvertrauen in die offizielle Todeszahlen aus Gaza hatte einen guten Grund: Sie hatten sich stets als verlässlich erwiesen. Abweichungen zu später erhobenen Zahlen der Vereinten Nationen lagen stets im niedrigen einstelligen Prozentbereich.
Als Israels Armee zum Jahreswechsel 2008/ 2009 den Gazastreifen über drei Wochen lang bombardierte, dokumentierten Gazas Beamte 1.440 Tote – eine Abweichung von 4,0 Prozent zu den im Nachhinein erhobenen Zahlen des “Amts der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten” (OCHA), das 1.385 Tote zählte. Die israelischen Angriffe im Sommer 2014 kosteten laut offiziellen palästinensischen Zahlen 2.310 Menschen das Leben, OCHA kam auf 2.251 Todesopfer – ein Unterschied von 2,6 Prozent. Bei 1,6 Prozent lag der Unterschied im Jahr 2021, als Gazas Behörden 260, die UN-Ermittler 256 Tote zählten.
Auch weitere Zählungen, etwa durch Reporter ohne Grenzen, oder die israelische Menschenrechtsorganisation B’Tselem, deckten sich mit den Angaben, die das Palästinensische Gesundheitsministerium veröffentlichte.
Warum die Zahlen des Gesundheitsministeriums keine „Hamas-Angaben“ sind
Der Grund, warum auf die Zahlen aus Gaza seit Jahren Verlass ist: Sie werden produziert von einem Verwaltungsapparat, der sich nur unwesentlich von dem anderer arabischer oder westlicher Länder unterscheidet. Mit dem in vielen westlichen Medien beliebten Klischee einer von einer „Terrormiliz“ beherrschten „Terrorhochburg“ hat der palästinensische Behördenalltag in Gaza nichts gemein.

Wer vor dem Krieg durch die Flure des Gesundheitsministeriums in Gaza-Stadt lief, der traf weder auf maskierte Männer mit Kalaschnikows noch auf Hamas-Funktionäre, sondern auf Ärzte und Verwaltungsmitarbeiter. Zwar übte auch die Hamas wie jede Partei der Welt Einfluss auf das Ministerium aus, zu „Hamas-Angaben“ machte das die Zahlen des Gesundheitsministeriums aber nicht. Es sei denn man bezeichnet die vom deutschen Bundesgesundheitsministerium jährlich herausgegebene Pflegestatistik als „SPD-Angabe“.
In gewisser Weise führt selbst dieser Vergleich sogar noch zu weit: Denn offiziell untersteht der Gesundheitsapparat in Gaza nicht einmal der Hamas, sondern dem Gesundheitsminister der Fatah-Regierung in Ramallah Maged Abu Ramadan. Als die Hamas im Jahr 2007 infolge ihres Wahlsieges und des anschließenden „Bruderkriegs“ mit Fatah die Institutionen der Palästinensischen Selbstverwaltung im Gazastreifen übernahm, blieb die Kontrolle über die Gesundheits- und Bildungsdienste bei der vom Westen anerkannten Regierung von Präsident Mahmoud Abas. Auch die Gehälter für Ärzte, Lehrer und viele weitere Beamte kommen bis heute aus Ramallah.
Auch für den Vorwurf, wonach Gazas Ärzte von der Hamas gelenkt würden, fehlen die Belege. Deren Selbstverständnis brachte der Direktor des Kamal-Adwan-Krankenhauses in Gaza, Ahmed al-Kahlot, einmal im Interview mit der Nachrichtenagentur AP auf den Punkt:
Die Hamas ist eine der Fraktionen. Einige von uns stehen Fatah nahe, andere sind unabhängig. Vor allem aber sind wir medizinische Fachkräfte.
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“Noch nie waren Echtzeitdaten zu Todesopfern so vollständig wie in Gaza”
An der Professionalität und Zuverlässigkeit der Arbeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums und den von ihm herausgegeben palästinensischen Todeszahlen hat sich auch mit Ausbruch dieses Krieges nichts geändert. In mehreren Untersuchungen haben Forscher seit dem 7. Oktober 2023 getan, was laut vielen Medienberichten unmöglich sein soll: Sie haben die Zahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums unabhängig überprüft.
Schon am 9. Dezember 2023 veröffentlichten Forscher der London School of Hygiene and Tropical Medicine im renommierten Wissenschaftsmagazin The Lancet eine Studie zur Zahl palästinensischer Tote nach dem 7. Oktober. Die Forscher glichen Satellitenbilder von zerstörten Wohnvierteln im Gazastreifen mit den Einwohnermeldedaten in der Küstenregion ab. Die daraus abgeleitete Zahl der Todesopfer war mit den offiziellen Zahlen nahezu identisch.
An gleicher Stelle publizierten Forscher der Johns Hopkins-University einen Monat später, am 6. Januar 2024, die Ergebnisse ihrer Untersuchung. Auch sie hatten die Todeszahlen des Ministeriums anhand verschiedener Modelle überprüft. Hinweise auf Manipulationen konnten auch sie nicht finden.
Der Epidemiologe Les Roberts hat sich im März 2025 im Auftrag des Time-Magazine alle relevanten Untersuchungen rund um die Todeszahlen aus Gaza genauer angeschaut. Sein Urteil ist eindeutig:
Tatsächlich hat es womöglich noch nie einen größeren Konflikt gegeben, in dem Echtzeitdaten zur Zahl der Todesopfer so vollständig waren wie im aktuellen Krieg in Gaza.
Israels Krieg gegen palästinensische Opferzahlen
Wenn es also nicht an Gazas Gesundheitsministerium liegt, woran liegt es dann, dass Medien die Todeszahlen aus Gaza regelmäßig in Zweifel ziehen? Die Antwort ist nicht schwer zu finden. Um den Ursprung der Erzählung von den unglaubwürdigen “Hamas-Angaben” zu finden, reicht ein Blick in die Presse-Statements israelischer Politiker und Militärs nach dem 7. Oktober.
Beinahe täglich kommen seitdem Statements aus dem israelischen PR-Apparat, die darauf abzielen, die Glaubwürdigkeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums zu diskreditieren – und all jener, die es wagen, deren Zahlen zu verwenden. Statements wie dieses, mit dem sich Israels Außenminister Israel Katz via X/Twitter an die Öffentlichkeit wandte:
Jeder der sich auf gefälschte Daten einer Terrororganisation stützt, um Blutverleumdungen gegen Israel zu verbreiten, ist antisemitisch und unterstützt den Terrorismus.
Auch die Israelische Armee vertraut den Zahlen aus Gaza
„Israel führt seit jeher und weiterhin einen endlosen PR-Krieg gegen die Opferzahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums.“ Das sagt Idan Landau. Der Linguistik-Professor an der Ben-Gurion-Universität dokumentiert seit Beginn des Krieges die zahllosen Versuche israelischer Politiker und Militärs, die Glaubwürdigkeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza zu zerstören.
Dazu vergleicht Landau auch die offiziellen Opferzahlen aus Gaza mit israelischen Statements über getötete “Hamas-Terroristen” und zeigt: Bei den Zahlen der Hamas handelt es sich nicht um Propaganda, bei den Veröffentlichungen der israelischen Armee hingegen oftmals schon.
“Schlimmer noch: Die Israelische Armee hat gar keine anderen Daten [als die des Palästinensischen Gesundheitsministeriums] und gibt es zu”, schreibt Landau. Ausgerechnet jene Armee, die die Glaubwürdigkeit der offiziellen palästinensischen Todeszahlen regelmäßig in Zweifel zieht, vertraue bei ihren Lagebeurteilungen selbst auf diese. Auch israelische Geheimdienstler bestätigen: Israels Armee nutzt die Zahlen des Gesundheitsministeriums und stuft diese als “insgesamt verlässlich” ein.
Das hält sie freilich nicht davon ab, öffentlich das Gegenteil zu behaupten.

Das Massaker vom Al-Ahli-Krankenhaus und seine Folgen
Zum Katalysator im Kampf Israels gegen die Glaubwürdigkeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums wurde das Massaker am Al-Ahli-Krankenhaus vom 17. Oktober 2023.
Um 18:59 Uhr ereignete sich eine Explosion im von Flüchtlingen und Patienten überfüllten Innenhof des Al-Ahli-Krankenhauses in Gaza-Stadt. Schnell gab Gazas Gesundheitsministerium eine Meldung heraus, sprach von einem israelischen Angriff, bei dem 471 Menschen ums Leben kamen.
Erst am 14. Oktober 2023 hatte eine israelische Rakete die die onkologische Station des Krankenhauses getroffen, nachdem die israelische Armee am Tag zuvor die „Evakuierung“ sämtlicher Krankenhäuser im Gazastreifen angeordnet hatte.
Der Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus – damals selbst für israelische Verhältnisse ein absoluter Tabubruch – sorgt für weltweite Empörung. Die Aufnahmen von Ärzten, die ihre Presskonferenz in einem Meer aus Leichen abhalten, wird zum Symbolbild eines Krieges, der schon nach zwei Wochen keine Grenzen mehr zu kennen schien.

Nur einen Tag später dreht sich in großen Teilen der westlichen Öffentlichkeit die Empörung um 180 Grad. Der Anlass: Die israelische Armee hatte ihre Version der Ereignisse veröffentlicht. Demnach sollte eine fehlgeleitete Rakete des Islamischen Jihad das Krankenhaus getroffen haben.
Nun war es die Darstellung des israelischen Militärs, die viele Medien weitgehend vorbehaltslos übernahmen. Mehr noch: In den Tagen danach begannen israelische Repräsentanten unisono mit vielen westlichen Politikern und Journalisten jeden zu diskreditieren, der die „Hamas-Propaganda“ (gemeint waren die Angaben des Gesundheitsministeriums) verbreitet hatte. Dem beispiellosen Massaker folgte eine beispiellose Öffentlichkeitskampagne: gegen die Glaubwürdigkeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums und gegen Medien, die dessen Angaben in ihrer Berichterstattung verwendeten.

Als „palästinensische Angaben“ zu „Hamas-Propaganda“ wurden
„Unverzeihlich“ sei es, „dass gewisse Medien, teilweise sogar seriöse Medien, die Linie von einer Terrororganisation übernehmen“, empörte sich der deutschsprachige Sprecher der Israelischen Armee, Arye Shalicar, am 18. Oktober unter anderem bei Welt TV. Die Zeit gab am Tag darauf Israels Botschafter Ron Prosor das Wort: “Die palästinensische radikalislamische Terrororganisation Hamas als Quelle zu nutzen, sei so, „als ob Sie den ‚Islamischen Staat‘ als Quelle für den Anschlag auf dem Breitscheidplatz in Berlin nehmen würden.“
Ähnlich klang die Empörung in Der Spiegel. Dort wütete ein der Nahost-Expertise bisher unverdächtiger Netz-Kolumnist gegen seine Kollegen:
Es ist erstaunlich, eigentlich sogar gaga, dass so viele, selbst professionell arbeitende redaktionelle Medien, Behauptungen der Hamas als valide Informationsquelle behandeln. Also einer Terrororganisation, die nachweislich Kinder tötet.
Auch Deutschlands oberster Journalisten-Vertreter meldete sich zu Wort: Journalisten dürften „der Terrororganisation Hamas und ihrer Propaganda nicht auf den Leim gehen“, mahnte der Chef des Deutschen Journalistenverbandes (DJV) Frank Überall.
Insbesondere die Öffentlich-Rechtlichen gerieten ins Visier: „Hamas-Propaganda in der Tagesschau“, titelte die BILD. „ARD-Tagesschau tappt in die Hamas-Falle“, hieß im Focus. Bei Markus Lanz empörte sich FDP-Generalsekretärin Marie-Agnes Strack-Zimmermann, das öffentlich rechtliche Fernsehen habe „eine Presseerklärung der Hamas übernommen“. Sogar Ex-ARD-Chefredakteur Rainald Becker, unter dessen Leitung Redaktionen selbst jahrelang die Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums übernommen hatten, tweetete in Richtung seiner Kollegen: „Terroristen und Mörder sind keine ‘Quelle'“.
Das Vergehen der gescholtenen ARD-Redakteure: Sie hatten in der Berichterstattung über die Explosion am Al-Ahli-Krankenhauses neben den Angaben der Israelischen Armee auch die des Palästinensischen Gesundheitsministeriums widergegeben. Sie taten also genau das, was bis zwei Tage zuvor über alle Medien hinweg noch normale journalistische Praxis war.
Auch der Deutschlandfunk geriet ins Visier: „Das muss man sich einmal vorstellen: Der ‚Deutschlandfunk‘ zitiert Terroristen so, als sei das eine seriöse Informationsquelle, so wie deutsche Regierungskreise oder die US-Regierung“, empörte sich BILD-Chefreporter Paul Ronzheimer.
Grund für die Empörung auch hier: Der Deutschlandfunk hatte in einem X/Twitter-Post zum Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhauses die Information des Palästinensischen Gesundheitsministeriums verbreitet – ganz so wie BILD es über Jahre auch tat.
Die Kampagne zeigte Wirkung: Beim Deutschlandfunk, der schnell seinen Tweet löschte und ein Entschuldigungsschreiben veröffentlichte. Und bei allen anderen Medien, die von nun an deutlich seltener über die Todeszahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums berichteten. Die, die es doch taten, bemühten sich von nun an so gut es ging, sich vom Absender der Zahlen zu distanzieren. Der Disclaimer von den „Hamas-Angaben, die sich nicht nachprüfen lassen“ war geboren.
Ausgerechnet eines der bis dahin schrecklichsten Massaker dieses Krieges hatte dem Versuch des Gesundheitsministeriums, die alltäglichen Schrecken mit Zahlen sichtbar zu machen, den größten Rückschlag verpasst.
Für Untersuchungen, die die israelische Version widerlegten, interessierten sich Medien kaum
Was in all der Aufregung über die vermeintliche Propaganda der Hamas für keinerlei Empörung sorgte: Viele Medien verbreiteten in dieser Zeit völlig unkritisch die Propaganda der israelischen Armee. Die Version, wonach eine Rakete des Islamischen Jihad den Hof des Al-Ahli-Krankenhaus traf, galt in vielen Medien bald nicht mehr als „Angabe Israels“, sondern als gesicherte Tatsache.
Aber ist das eigentlich wirklich so sicher? In dutzenden Medien weltweit erschienen Faktenchecks und Analysen zur Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus, teils von sehr unterschiedlicher Qualität und mit sehr unterschiedlichem Ergebnis. Während unter anderem Untersuchungen von Le Monde und der New York Times die israelische Version zurückwiesen, hielt unter anderem eine Untersuchung von Human Rights Watch den Einschlag einer palästinensischen Rakete für das wahrscheinlichste Szenario.

Die umfassendste Analyse zur Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus wurde am 15. Februar 2024 von Forensic Architecture veröffentlicht. Das Rechercheteam wertete Handy- und Fernsehaufnahmen aus, berechnete die Flugbahnen und den Treibstoff-Verbrauch von Raketen, dokumentierte Zerstörungen und Verletzungsmuster, sprach mit Augenzeugen und Luftfahrt-Experten.
Aus den gewonnen Daten erstellten die Forscher ein aufwendiges 3D-Modell, das es ihnen erlaubte die Ereignisse des Abends des 17. Oktober 2023 detailliert zu rekonstruieren. Das Ergebnis der Untersuchung: Die israelische Version der Ereignisse kann nicht stimmen. Die vermeintlichen Beweisaufnahmen einer Rakete des Islamischen Jihad, die Sprecher der Israelischen Armee in Medien weltweit präsentierten, zeigten in Wahrheit eine Abfangrakete des israelischen Abwehrsystem Iron Dome.
An Israels systematischer Zerstörung von Gazas Gesundheitssystem gibt es keine Zweifel
Mit absoluter Sicherheit konnte auch die Untersuchung von Forensic Architecture nicht herausfinden, wer für die Explosion im Hof des Al-Ahli-Krankenhauses verantwortlich ist. Aber selbst wenn es eine Rakete des Islamischen Jihad war und das Palästinensische Gesundheitsministeriums in diesem einen Fall zu Unrecht Israel beschuldigte, macht das jahrelange professionelle und zuverlässige Arbeit unbedeutend? Macht eine einzelne Pressemitteilung Informationen, die sich in diesem Krieg wie in früheren Kriegen stets als akkurat erwiesen haben zu „Propaganda der Hamas“? Und wie nennen wir dann die Angaben der Israelischen Armee, die nicht nur in diesem einen Fall falsch waren?
Sicher ist: Auch nach der Explosion am Al-Ahli-Krankenhaus war auf die offiziellen Todeszahlen aus Gaza verlass. Sicher ist auch: Der Angriff auf das Al-Ahli-Krankenhaus sollte nicht die einzige Attacke auf das Gesundheitssystem im Gazastreifen bleiben. Schon vor dem 17. Oktober 2023 hatte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) 51 israelische Angriffe auf die medizinische Infrastruktur des Gazastreifens dokumentiert. In den folgenden Wochen attackierte Israels Armee jedes einzelne der 36 Krankenhäuser in der Küstenregion. Zweifel an der israelischen Täterschaft gab es in diesen Fällen ebenso wenig wie an den Opferzahlen des Palästinensischen Gesundheitsministeriums.
Israel zerstörte die Server, in denen die Sterbemeldungen erfasst werden
Die systematische Zerstörung des Gesundheitssystems in Gaza geht schließlich so weit, dass selbst die Erfassung der Toten zunehmend unmöglich wird. Als Israels Armee Mitte November 2023 Gazas größtes Krankenhaus, die Al-Schifa-Klinik, stürmt, zerstören die Soldaten neben Behandlungsräumen und medizinischem Gerät auch das Rechenzentrum der Klinik, die digitale Zentrale der Erfassung palästinensischer Todeszahlen, in der die Sterbemeldungen aller Krankenhäuser des Gazastreifens zusammenlaufen. Von den vier Mitarbeitern, die das Rechenzentrum betreuen, stirbt einer bei einem israelischen Luftangriff auf das Krankenhaus. Die drei anderen werden von israelischen Soldaten verschleppt.
Ab dem 11. November 2023 musste das Gesundheitsministerium die Zählung der Toten schließlich ganz einstellen. Zum ersten Mal in seiner Geschichte blieben die Behörden Gazas die Lieferung zuverlässiger Opferzahlen schuldig. Nicht wegen der vermeintlichen Propaganda der Hamas, sondern aufgrund der Zerstörungswut der israelischen Armee.
Kampf gegen das Vergessen
Aber schon ab dem 1. Dezember 2023 konnten wieder offizielle Todeszahlen aus Gaza veröffentlicht werden. Zu verdanken ist das dem Einsatz palästinensischer Ärzte und Beamter des Palästinensischen Gesundheitsministeriums. Der britische Fernsehsender Sky News dokumentierte einmal deren schon heldenhaft anmutenden Kampf um die Erfassung von Gazas Toten.
Während Israels Krieg täglich oft mehrere hundert Menschen zum Opfer fielen und die Flure der Krankenhäuser überfüllt waren mit Toten, Verletzen und Geflüchteten, dokumentierten Ärzte, Pfleger und Krankenschwestern die Toten so gut sie konnten, notfalls mit Stift und Papier. Ein eigenes Team kümmert sich zudem darum, verloren gegangene Daten zu rekonstruieren und prüft bestehende Listen immer wieder auf Fehler.
Trotz Belagerung und Bomben gelang es dem Gesundheitsministerium sogar sein Computernetz wiederherzustellen und die noch intakten Krankenhäuser Gazas wieder miteinander zu verbinden. Ein Kampf um Präzession und gegen das Vergessen, der in westlichen Medien nicht vorkommt. Die strickten lieber weiter an der Legende von den „Hamas-Angaben“, die man nicht überprüfen könne.
Die Zahlen des Gesundheitsministeriums bilden nur einen Teil des Schreckens ab
Zu der Geschichte über die Todeszahlen aus Gaza gehört aber auch: Sie bilden heute längst nicht mehr das ganze Schrecken des Krieges ab. Mehr als 10.000 Menschen gelten aktuell im Gazastreifen als vermisst, weil israelische Bomben nichts von ihnen übrigließen gelassen haben oder ihre Leichen unter den Trümmern begraben liegen. Sie tauchen in den Listen des Ministeriums ebenso wenig auf wie die ungezählten Opfer von Hunger und Krankheiten.
Dass allein schon die Zahl identifizierbarer Tote deutlich höher liegen dürfte, zeigt eine Untersuchung der Forschungsgruppe Airwars. Dazu glichen sie die Sterbelisten des Gesundheitsministeriums mit Informationen über Opfer aus öffentlich zugänglichen Quellen wie Presse-Artikeln, NGO-Berichten und Social-Media-Posts ab. Allein für die ersten 17 Tage des Krieges dokumentierten Ariwars über 3.000 Tote – rund ein Viertel mehr als auf den Sterbelisten des Gesundheitsministeriums zu finden waren. Airwars zeigte auch: Israels Krieg richtet sich vor allem gegen die Zivilbevölkerung. In lediglich vier Prozent der untersuchten Angriffe sei überhaupt ein Hamas-Kämpfer getötet worden.

Dass der Unterschied zwischen offiziellen und realen Todeszahlen im Kriegsverlauf noch weiter zugenommen haben dürfte, zeigt eine Untersuchung von Forschern der London School of Hygiene and Tropical Medicine und der Yale University. Ihre im Januar im Fachmagazin The Lancet veröffentlichte Studie kommt für den 30. Juni 2024 auf 64.260 Todesopfer – ein Plus von 41 Prozent gegenüber den 37.877 Toten, die bis zu diesem Zeitpunkt offiziell dokumentiert worden waren.
Weitere Schätzungen übertreffen auch diese Zahl. In einem am 2. Oktober 2024 von 99 amerikanischen Ärztinnen, Krankenpfleger und Hebammen, die in Gaza tätig waren, verfassten Offenen Brief an den damaligen US-Präsidenten Joe Biden heißt es: „Es ist wahrscheinlich, dass die Zahl der Toten dieses Konfliktes bereits größer ist als 118.908.“
Und selbst diese Schätzung ist noch konservativ, vergleicht man sie den Ergebnissen eines ebenfalls in The Lancet veröffentlichten Beitrages vom 10. Juli 2024. Basierend auf Erfahrungswerten aus früheren Kriegen gehen die Forscher davon aus, dass die reale Zahl der Toten die der offiziell dokumentierten um das 3- bis 15-fache übersteigen dürfte. Zurückhaltend gingen sie vom vierfachen Wert der offizielle Zahlen aus und kamen so für Juli 2024 auf 186.000 Tote.
Sich der Wahrheit nähern anstatt sie zu verschleiern
Es stimmt also, Vorsicht im Umgang mit den Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza ist angebracht. Aber nicht, weil es Hinweise darauf gibt, dass die Hamas die Zahlen manipuliert und übertreibt. Im Gegenteil: Das schiere Ausmaß von Tod und Zerstörung, das Israels Armee über den Gazastreifen gebracht hat, macht es mittlerweile schlicht unmöglich, die reale Zahl der Toten auch nur annähernd zu dokumentieren.
Anstatt die Propaganda von „Hamas-Angaben“ nachzuplappern, sollten sich Journalisten mit der Realität rund um die offiziellen Todeszahlen aus Gaza und der Arbeit des Palästinensischen Gesundheitsministeriums auseinandersetzen. Anstatt sich mit Floskeln, dass Angaben „nicht nachgeprüft werden können“ ihrer journalistischen Verantwortung zu entledigen, sollten sie jene würdigen, die – teils unter Einsatz ihres Lebens – eben jene Angaben tagtäglich nachprüfen. Genauso sollten sie darauf aufmerksam machen, warum es denn so schwer ist, das Sterben im Gazastreifen unabhängig zu überprüfen – und klar formulieren, wer dafür verantwortlich ist.
Anstatt den Horror, der sich jeden Tag im Gazastreifen abspielt, zu relativieren und zu verschleiern, sollten Journalisten Wege finden, ihn sichtbar zu machen. Die akkurate Berichterstattung über Todeszahlen und deren Glaubwürdigkeit wäre zumindest ein erster Schritt.
Ein journalistisch sauberer Hinweis zur Zahl palästinensischer Opfer im Gazastreifen könnte wie folgt lauten:
Nach Angaben des Palästinensischen Gesundheitsministeriums in Gaza sind bei israelischen Angriffen bisher über 50.000 Menschen getötet worden. Obwohl die Statistiken professionell erfasst werden und ihre Richtigkeit vielfach durch Internationale Organisationen und wissenschaftliche Untersuchungen bestätigt wurden, dürfte diese Zahl nur einen kleinen Teil der realen Todesfälle ausmachen. Gründe sind unter anderem, dass Tausende Tote noch unter den Trümmern liegen oder durch die Zerstörung des Gesundheitssystems und bürokratischer Strukturen nicht erfasst werden können. Auch Sterbefälle infolge von Krankheiten und Mangelernährung umfasst diese Zahl nicht. Basierend auf wissenschaftlichen Modellen und Erfahrungen aus früheren Kriegen gehen Experten deshalb davon aus, dass die reale Zahl der Toten die offiziellen Angaben um ein vielfaches übersteigen könnte. Eine unabhängige Überprüfung ist derzeit nur sehr eingeschränkt möglich, da Israel entgegen völkerrechtlicher Verpflichtungen Mitarbeitern von Internationalen Organisationen und NGOs sowie Reportern weitgehend die Einreise in den Gazastreifen verweigert.
Dieser Text hat echt viel Arbeit gemacht und es gibt noch viel mehr an deutscher Nahost-Berichterstattung zu kritisieren. Wie ihr euch denken könnt, gibt es aber kaum deutsche Medien, die für so einen Text bezahlen. Damit ich mir zukünftig noch mehr Zeit für solche Kritik und Analysen nehmen kann, würde ich ich mich deshalb freuen, wenn ihr diesen Blog finanziell unterstützt: einmalig via PayPal oder regelmäßig per Steady. Vielen Dank!
Das Aufmacherbild zeigt die griechische Seherin Kassandra in der Interpretation der englischen Malerin Evelyn De Morgan. Rund 3.000 Jahre vor dem Palästinensischen Gesundheitsministerium warnte Kassandra auch schon vergeblich vor Tod und Zerstörung in ungekanntem Ausmaß (in Troja). Die Reaktion damals wie heute: Unglaube, Spott und Diffamierung.