Immer wenn ich einen Text über Flüchtlinge schreibe, folgt mit ziemlicher Sicherheit irgendwann eine der folgenden Reaktionen: „Den Texte finde ich gut, aber ‘Flüchtling’ geht echt gar nicht“. Oder die Kurzform: „Flüchtling srsly!?“. Oder ganz ohne Diskussion in der Form einer Korrekturanmerkung: „*Geflüchtete“.
Die Bezeichnung, die wiederum Rechte am liebsten durch “illegale Einwanderer” ersetzen würden, gehört aus Sicht vieler linker Sprachkritiker aussortiert: Um einen rechten Kampfbegriff handle es sich, dessen Abwertung schon an der eigenen Wortendung beginne: Flüchtling wie Schwächling, Feigling, Sonderling. Die vermeintlich bessere, weil „neutralere“ Alternative laute: Geflüchtete.
“Kein Begriff ist unschuldig, jeder trägt den Ballast seiner Verwendungsgeschichte mit sich.”
Daran ist nicht alles falsch und dennoch halte ich „Flüchtling“ für alternativlos. Nicht nur wegen Häuptling, Liebling und Schmetterling, sondern, weil es sich mit „Flüchtlingen“ auch in sprachlicher Hinsicht nicht so schwarz-weiß verhält, wie manche Debatte den Anschein macht.
Gerade im politischen Kontext lassen sich für fast jeden Begriff Gründe finden, die gegen seine Verwendung sprechen: Missbrauch zur NS-Zeit, fehlende Möglichkeit der Geschlechterrepräsentation, irgendeine „eigentliche“ Bedeutung aus dem 17. Jahrhundert.
Kein Begriff ist unschuldig, jeder trägt den Ballast seiner Verwendungsgeschichte mit sich. Doch nach aller Diskussion kommen wir an einer Frage nicht vorbei: Welcher Begriff ermöglich es zwei Personen am besten, unmissverständlich von derselben Sache zu sprechen?
“Flüchtlinge kamen aus der DDR und flohen vor den Nazis, sie stehen in Geschichtsbüchern und Gesetzestexten.”
Meinen wir Menschen, die vor Krieg, Gewalt oder Armut geflohen sind, gibt es momentan keine Bezeichnung, die diese Aufgabe besser erledigt als “Flüchtling”.
Es stimmt, was Kritiker sagen: „Flüchtling“ wird missbraucht, beschönigt und abgewertet. Aber er trägt nicht nur einen vielleicht problematischen Suffix und die Narben unzähliger migrationspolitischer Auseinandersetzungen mit sich.
Er steht auf einem Fundament, das ihn wehrhaft gegen Vereinnahmungsversuche macht: „Flüchtling“ ist ein Begriff, für dessen Bedeutung seit 64 Jahren die Genfer Flüchtlingskonvention bürgt, dessen Geltungsbereich das UN-Flüchtlingshilfswerk sichert, der seine Hoheit mit Hilfe von Flüchtlingsorganisationen und Flüchtlingsräten mühsam gegen Angreifer wie „Asylant“ verteidigte. Flüchtlinge kamen aus der DDR und flohen vor den Nazis, sie stehen in Geschichtsbüchern und Gesetzestexten.
“Als würde man mit ‘illegalen Einwanderern’ für offene Grenzen streiten.”
„Geflüchtete“ tun das nicht. Das macht sie beliebig. „Geflüchtet“ sind wir alle schon einmal: von einer öden Familienfeier, aus dem Knast oder in halluzinogene Traumwelten. Zu Flüchtlingen macht uns das nicht.
Auch so neutral, wie ihn seine Befürworter gern hätten, ist „Geflüchtete“ längst nicht mehr: Mit „Geflüchteten“ lässt sich in etwa so glaubwürdig über Gewalt in der Erstaufnahmeeinrichtung berichten wie mit „illegalen Einwanderern“ für offene Grenzen streiten. In den Ohren vieler trägt auch er Ballast mit sich: den von linkem Aktivismus und Willkommenseuphorie.
Im Vergleich dazu ist „Flüchtling“ ein Refugium der Klarheit in einer Debatte, die nach politischen und moralischen auch droht sprachliche Grenzen einzureißen. Das muss freilich nicht so bleiben. Sprache ändert sich. Ständig. Begriffe, die vor wenigen Jahren als alternativlos galten, sind heute verpönt. Doch bislang ermöglicht es uns nur „Flüchtling“, auf unterschiedlichste Weise über dieselbe Sache zu reden: Einfach dadurch, indem der Begriff selbst sich heraushält.
Das Aufmacherbild zeigt den Überfall auf eine Flüchtlingsfamilie während des Dreißigjährigen Kriegs. Das Gemälde “Marodierende Soldaten” vom flämischen Maler Sebastiaen Vrancx hängt im Deutschen Historischen Museum im Berlin.
29 Kommentare On Begriffsflucht: Warum ich gegen “Geflüchtete” bin
Das hier ist der Knackpunkt: “In den Ohren vieler”
Ich werde meinen Sprachduktus nicht der rechten lauten Minderheit anpassen, nur weil die da irgendwas raushören, was denotativ nicht da ist.
“Geflüchtet” ist eine Zustandsbeschreibung und kein “linker Aktivismus und Willkommenseuphorie”.
Der Torpfosten wurde schon stark nach rechts verschoben, wenn “Flüchling” normaler ist als “Geflüchtet”.
Rechte laute Minderheit, wie bitte? “Geflüchtete” ist der neue Begriff, lesen Sie den Artikel und die dort genannten Konventionen und geschichtlichen Ereignisse, falls Ihnen der Artikel zu unseriös ist. Hier davon zu sprechen, dass der “Torpfosten nach rechts verschoben wurde”, nur weil nicht alle Welt so spricht, wie Sie es seit (vier Jahren, fünf Jahren?) wünschen, ist absurd.
Aber in einem Punkt haben Sie recht, “Geflüchtete” ist eine Zustandsbeschreibung. Eine Abschliessende, um genau zu sein. Den Begriff könnte man mit viel gutem Willen noch auf Menschen anwenden, die nach ihrer Flucht wieder in die Heimat (extra für Sie: der Ort von dem sie flüchten mussten) zurückgekehrt sind. Dann wäre der Satz “Ich war Geflüchteter” sinnig. Aber die Menschen sind hier, beantragen Asyl, brauchen Hilfe. Warum? Weil Sie auf der Flucht sind, also Flüchtlinge.
Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich wünsche mir gar nichts.
Ich werde nur meinen Sprachduktus nicht auf das pejorative “-ling” Wort ändern.
Warum “geflüchtet” abgeschlossen sein muss erschließt sich mir auch nicht. Ich kann auch geflüchtet sein und gleichzeitig noch auf der Flucht.
Wie wäre es mit “Flüchtende”?
Was spricht außer ihrem persönlichen Bauchgefühl oder dem Sprachduktus ihres offenbar recht homogenen sozialen Umfelds dafür, dass “Flüchtling” pejorativ sei und nur aufgrund eines gesellschaftlichen Rechtsrucks irgendwie normaler? Sie blenden wirklich die komplette Argumentation des Autors aus und liefern kein einziges Gegenargument.
Viele Menschen, die ich aus dem Freundes- und Bekanntenkreis kenne und die sich ab 2015 engagiert und geholfen haben, haben das gemacht, weil sie selbst Flüchtlinge waren bzw. als Kinder geflüchtet sind. Teilweise kamen da bei der Berichterstattung alte Erinnerungen wieder hoch und das waren, um es vorsichtig zu sagen, nicht sehr angenehme. Ich kenne da wirklich niemanden, der nicht den Ausdruck “Flüchtling” verwendet, deswegen wird er auch selbstverständlich für sich selbst oder die eigene Familie verwendet.
Dass man nun diesen persönlich Betroffenen praktisch unterstellt oder vorwirft, sie wären rechts oder würden sich keine ernsthaften Gedanken über eine Infantilisierung oder das generische Maskulinum machen, ist schon sehr bezeichnend.
Wie soll man “Ist historisch so gewachsen” auch widerlegen?
Dass “Flüchtling” auch in Gesetzestexten steht, ist nur ein Resultat dessen.
Sie haben recht, ich setze mein Axiom (Der Historisch gewachsene Begriff ist nicht zwangsläufig der richtige) gegen das Axiom des Autors.
Sprache ist dynamisch und ändert seine Konnotationen zu jeder Zeit und individuell.
Wenn ich suche, werde ich sicherlich auch einen Gesetzestext über Neger finden.
Aber deshalb werde ich das Wort nicht verwenden.
(In dem Beispiel ist die Wandlung von normalem Alltagsgebrauch zu negativer Konnotation natürlich bereits abgeschlossen, im Gegensatz zu “Flüchtling”. Daher wähle ich das Beispiel, um die Absurdität des historischen Arguments darzulegen. Das juristische Argument überzeugt mich noch – Wobei einer Änderung des Wortes in diesen Gesetzen m. E. auch nichts im Wege stünde.)
Auf Ihren letzten Absatz gehe ich nicht ein – Ich will nur sagen, dass Ihre Interpretation nicht meine Intention wiederspiegelt.
Hier noch mein Disclaimer: Ich bin selbst Mitglied in einem “Flüchtlingshilfe (Heimatstadt) e. V.”, was mich jedoch nicht daran hinder, das Wort Flüchtling generell doof zu finden.
Anscheinend haben Sie Ihren Sprachduktus schon angepasst. Denn Flüchtling ist der gebräuchlichere Begriff, der erst durch Rechte eine negative Konotation erhalten hat. Wenn Sie also jetzt “Geflüchtete” verwenden, haben sie den Rechten nachgegeben.
In dem von Ihnen erwähnten Fall gibt es aber eine Gruppe, die inzwischen eine Bezeichnung für sich als beleidigend oder diskriminierend ansieht, und da stimme ich Ihnen ausdrücklich zu, sich dann eben nicht auf die Wortherkunft zu beziehen und die Diskussion für beendet zu erklären!
Den Streit zwischen Preskriptivisten und Deskriptivisten halte ich in diesem Zusammenhang allerdings für ziemlich theoretisch, in der Praxis finden Sie in politischen Debatten nämlich je nach Lage sowohl auf “progressiver” als auch “konservativer” Seite beide Argumentationen, etwa wenn es um rechtliche Diskussionen geht. Ich würde mir da immer den Einzelfall anschauen. “Häuptling” lässt sich bis ins 14. Jahrhundert im Altfriesischen nachweisen und war damals der Titel ostfriesischer Territorialherren, später dann immer mehr nur noch die Bezeichnung für außereuropäische “Oberhäupter”. Ich verstehe das Problem. Aber ist die Alternative “(An-)Führer” wirklich besser? Meiner Meinung nach ist der Begriff “Häuptling” in der Bevölkerung positiv konnotiert, da denken doch die meisten Leute heute wohl zuerst an Winnetou, den Häuptling der Apachen.
Wenn Sie sich das von mir im unteren Kommentar zitierte Kapitel über “Flüchtlinge” und “(Heimat-)Vertriebe” durchlesen, dann ist da genau das passiert, dass nämlich eine Gruppe den allgemeinen Flüchtlings-Begriff für sich abgelehnt hat und stattdessen (Heimat-)Vertriebene forcierte. Selbstverständlich auch mit politischen Hintergedanken.
Was ich an der Diskussion – so wie ich sie im Alltag mitbekomme – so problematisch finde, ist die Konzentration auf simple Regeln, die rigoros eingehalten werden müssen. Ordnung muss sein! Das nervt irgendwann. Ich finde, dass alle Begriffe, egal ob “Geflüchtete”, “Schutzsuchende” oder “Vertriebene” ihre Berechtigung haben und die Berichterstattung bereichern können, aber das nur zusammen mit dem Kontext und dem Inhalt.
Sorry, das sollte als Antwort auf den Beitrag von Anderer Max gepostet werden …
Hmm, meinem Verständnis nach hat es gar nichts damit zu tun, dass “Flüchtling” irgendwie ein rechter Kampfbegriff wäre. mE wird Geflüchtete nach den Ankunft verwendet, weil das Wort Flüchtling impliziert, der Mensch sei noch immer auf der Flucht.
Das ist auch schon alles.
Die Diskussion gibt es häufig und zu vielen Begriffen und normalerweise verfalle ich zuerst in den Verteidigungsmodus. Erst kürzlich: Master / Slave in der IT soll ersetzt werden, weil Slave negativ belegt ist. Jo… kann ich sogar nachvollziehen. Aber der Aufwand! Aber schwer zu sagen, wie man das sieht, wenn die eigene Verwandschaft versklavt war / ist.
Letztendlich ergibt es aber keinen Sinn mit Leuten darüber zu streiten, warum sie sich durch einen Begriff angegriffen fühlen. Wenn dem wirklich so ist, dann ist dem so. Man sollte sich nur die Frage stellen ob man darauf Rücksicht nehmen kann und will.
Flüchtling vs. Geflüchteter – ich persönlich, als Flüchtling – kannte die Unterscheidung bisher nicht mal.
Dem kann ich nur zustimmen.
Ich kenne nur eine ausführliche Begründung dafür von “Geflüchteten” statt “Flüchtlingen” zu sprechen, welches jahrzehntelang in Gebrauch und völlig neutral war; die ist von Anatol Stefanowitsch und hahnebüchen.
Ich halte sie für unehrlich, so bröselig ist das Fundament, auf dem sie gebaut ist. Die Endung sei infantilisierend (Jüngling, Hänfling, Lehrling) – diese Argumentation blendet freilich viele Gegenbeispiele aus (Zwilling, Fiesling). Die eigentliche Absicht ist doch wohl, den Studierenden und Busfahrenden weitere Passivlinge zuzugesellen. Es gibt keine spezifisch weibliche Form (Flüchtlingin?), so dass man, wie bei der männlichen Form (männlicher Flüchtling) das weibliche Spezifikum ebenso bilden muss (weiblicher Flüchtling), weil Flüchtling alleine eben generisch maskulin ist, d. h. obwohl das Wort, der Bezeichner männlich ist, ist es das Bezeichnete nicht.
Diese Neutralität der generischen Form wollen die hauptberuflichen Feministen aber nicht akzeptieren und unterstellen, Frauen seien allenfalls irgendwie mitgemeint, weswegen wir jetzt sehr viel umbenennen müssen, etwa Studentenwerk zu Studierendenwerk oder Fußgängerüberweg zu Zufußgehendenüberweg.
Und daher müssen Begriffe, die den Unfug dieser Ansicht bezeugen, eliminieren.
Ob für einen Flüchtling, nur weil er irgendwo Asyl geboten bekommt, die Flucht zu Ende ist, würde ich auch bezweifeln. Die Gründe für die Flucht bestehen ja meist fort: Krieg oder autoritäre Regime.
Ein Geflüchteter könnte auch jemand sein, der wieder eingefangen wurde oder zurückgekommen ist.
Dass die, die immer schon “Flüchtling” sagen, damit abwertendes im Schilde führen ist insofern eine praktische Unterstellung, als man sich in diesen Kreisen eh von Nazis umstellt sieht und allen Weißen, insbesondere weißen Männern, unbewussten Rassismus nachsagt. Das Wort “Flüchtling” ist dann schon der Beweis und der Verwender als Rassist überführt.
Ab wo gilt überhaupt Geflüchtete? Ab der Grenze? Vorher sind es Flüchtlinge, dann Geflüchtete.
Mit Student/Studierende ist es ja ähnlich. Ich bin Student und kein Studierender weil ich momentan nur eingeschrieben bin aber nicht studiere.
Geflüchtet sind wir übrigens wahrscheinlich noch nie von einer Familienfeier, sondern höchstens geflohen. Ob wir flüchten oder fliehen sagen, hängt von der Motivation ab. Flüchten bedeutet, in die Flucht geschlagen worden zu sein. Fliehen heißt, dass ich aus eigenem Antrieb fliehe. Also als Gangster oder eben von einer Familienfeier.
Würden wir jedes Wort nur so verwenden, wie es der Duden vorsieht, wäre das vielleicht so. Aber danke für den Hinweis, der Unterschied war mir bisher auch nicht bewusst.
Das gibt der Duden schon mal nicht her, da heisst es:
Flüchten:
1) [plötzlich und sehr eilig] fliehen; sich einer drohenden Gefahr durch Flucht zu entziehen versuchen
2) sich durch Flucht irgendwohin in Sicherheit bringen
Fliehen:
1) sich eilig entfernen, um sich vor einer Gefahr in Sicherheit zu bringen; (vor etwas, jemandem) davonlaufen
2) (gehoben) vor jemandem, etwas ausweichen; meiden
Aber mal angenommen Sie hätten recht (was Sie laut Duden nicht haben), und es wäre abhängig von der Motivation: Das würde im Umkehrschluss bedeuten, dass der Sprachduktus stets und immer von den jeweiligen Emotionen und Motivationen des Einzelnen abhängt und eine Verständigung nicht mehr möglich ist.
Ich für meinen Teil kann nur sagen, dass ich finde, dass Sie hier typisches Berliner-Studenten-Elfenbeinturmbewohnertum betreiben. Abseits jeglicher Realität. Jemand der Redakteur bei der Zeit werden könnte. Über solche gefühlten oder tatsächlichen Feinheiten der Worte kann man natürlich stundenlang philosophieren, was nichts an der Kommunikation untereinander ändert. Es sei denn Sie gehören zu der Gruppe Menschen, die verlangt, dass jeder so spricht wie Sie es für richtig halten. Abseits davon, ob Sie recht haben oder das überhaupt eine Rolle spielt.
Ich glaube sie verwechseln Flüchtende/Fliehende mit Vertriebenen. Erstere tun dies aus eigenem Antrieb, letztere werden gezwungen.
“Flüchtlinge kamen aus der DDR und flohen vor den Nazis, sie stehen in Geschichtsbüchern und Gesetzestexten.”
Soso, die DDR gab es also, als es das dritte Reich gab. 1933 bis 1945 ist also gleich 1948 bis 1989.
Oder waren wir bis 1989 alles Nazis und sind jetzt alles brav, die AfD gibt es gar nicht? Nazis sind unbekannt in Deutschland? Oder ist man selbst ein Nazi und erkennt es nicht mal? Das muss es sein, ansonsten ergibt das Geschwafel keinen Sinn.
Jep, der Autor muss Nazi sein, ansonsten ist sein Geschwafel sinnlos. Ist es zwar auch, aber der Autor hat sich als Nazi geoutet und sit damit: ASOZIAL!
Logiker, muss der Autor wirklich explizit “Flüchtlinge kamen aus der DDR und Flüchtlinge flohen vor den Nazis” für Sie schreiben? Haben Sie wirklich nicht verstanden, worauf der Autor in seiner Argumentation hinaus will, dass nämlich der Begriff historisch eindeutig NICHT pejorativ gebraucht und verstanden wurde und deswegen diese beiden unterschiedlichen Beispiele anführt?
Ich habe noch ein spezielles Problem mit allen Substantivierungen, Geflüchtete genauso wie Studierende. Für mich ist das eine technokratische, gezwungene, blutleere Sprache.
Überlegen Sie mal, wie oft Sie (abgesehen von den verbreiteten korrekten Begriffe) Gerundivformen oder Substantivierungen benutzen, wenn Sie mit anderen Menschen sprechen. Wenn ich mir mich so vorstelle, dann habe ich immer ein Fantasie-Bild vor Augen, bei dem ich mich über etwas lustig mache. Am Tee nippend, danach die Tastatur bedienend, wurden dieses Aufgeschriebene unter aufgewendeten Mühen erstellt.
Dass unsere Sprache unsere Gedanken lenkt, sehe ich durchaus. Wir können aber Menschen nicht schützen, indem wir uns alle zwei Jahre eine neue Bezeichnung für sie ausdenken, während sie als Gruppe weiterhin in unserer Gesellschaft kritisch oder negativ wahrgenommen werden. Flüchtling ist wirklich als neutraler Begriff etabliert – gut, dass wir dieses robuste Wort haben.
Der Begriff «Häuptling» eignet sich nicht so gut als Positivbeispiel. Er ist ebenfalls umstritten :
https://de.wikipedia.org/wiki/H%C3%A4uptling#Problematik_der_Bezeichnung_%E2%80%9EH%C3%A4uptling%E2%80%9C
Ich habe nichts gegen “Flüchtlinge” (das Wort 😉 ), sage auf Arbeit aber “geflüchtete Menschen”. Finde es allerdings spannend mir über die “beste” Wortwahl Gedanken zu machen.
Die Argumentation des Artikels finde ich nicht so richtig überzeugend. Viele Wörter, die heute als problematisch gelten, waren einmal “unschuldig” und finden sich dementsprechend in allen möglichen Texten wieder (du sagst es selber gegen Ende des Artikels). Auch die Tatsache, dass “flüchten” im übertragenen Sinne verwendet wird (von der Familienfeier z.b.) ändert nicht an den existentiellen Charakter einer Flucht vor einer bedrohlichen Situation.
“Flüchtling” hört sich in meinem Ohr leicht verharmlosend und paternalistisch an. Vielleicht liegt es auch einfach an der Euphemismus-Tretmühle und die negativen Konnotation von “Asylant / Asylbewerber” legen sich jetzt langsam halt auf das Wort “Flüchtling”. Denn das eigentliche Problem sind imho schon die negativen Gefühle gegenüber geflüchtete Menschen in großen Teilen der Bevölkerung.
Wie dem auch sei: ich denke, du musst dir da keinen großen Kopf machen. Gibt halt jetzt noch eine weitere sprachliche Alternative.
Ich erinnere mich, dass in den 50er- und 60er-Jahren zumindest in meiner Gegend (Nordwürttemberg) zwischen Flüchtlingen und Vertriebenen unterschieden wurde. Flüchtlinge hatten Ihre Heimat vor Eintreffen der Roten Armee verlassen, Vertriebene danach.
danke, interessant
Die sprachpolitischen Hintergründe für die erst 1953 im Bundesvertriebenengesetz auch juristisch klar vollzogene Unterscheidung zwischen Vertriebenen und Flüchtlingen findet man bei “Politische Leitvokabeln in der Adenauer-Ära” von Frank Liedtke, Karin Böke und Martin Wengeler im Kapitel 2: “Heterogener Sprachgebrauch und Sprachwandel bei den Personenbezeichnungen”.
https://books.google.com.ua/books?id=1e5VIrZoSeYC&pg=PA148&dq=heterogener+sprachgebrauch+und+sprachwandel+bei+den+personenbezeichnungen&hl=de&sa=X&ved=0ahUKEwjKvpSa0_bdAhWwxFkKHVYrBwMQ6AEIJjAA#v=onepage&q=heterogener%20sprachgebrauch%20und%20sprachwandel%20bei%20den%20personenbezeichnungen&f=false
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Wie wäre es mit “Mensch mit Fluchterfahrung”. Hierbei steht das Humanistische im Vordergrund und nicht seine, nur auf eine Tatsache beschränkte, Flucht. Der Mensch mit Fluchterfahrung ist ein Mensch und besitzt demnach noch weitere Facetten, die es zu Ergründen und zu Nutzen lohnt.
Unerwähnt bleibt, dass doch genau die Tatsache, dass der Begriff “Flüchtling” gerade weil er in der Genfer Flüchtlingskonvention verwendet wird unpassend ist. Spricht man von Flüchtlingen meint man ja normalerweise eben nicht nur Flüchtlinge, die die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt bekommen haben, sondern z.B. auch Personen mit subsidiärem Schutz, Asylbewerber oder Geduldete. Das stimmt aber nicht mit der rechtlichen Verwendung der Flüchtlingseigenschaft überein. Der Begriff Geflüchtete bezieht hingegen eindeutig alle mit ein, die geflüchtet sind, unabhängig vom Aufenthaltsstatus.
Das Ironische an der Geschichte ist ja, das schon “Flüchtling” ein Begriff war, der sich irgendwann (gefühlt in den frühen 2010ern, aber ich mag mich irren) allgemein für asylsuchende Migranten durchgesetzt hat, eben weil er neutraler klang und positiver besetzt war als die zuvor verwendeten Begriffe “Asylbewerber” oder gar “Asylant”, und weniger bedrohlich als “Migrant”.
Seit den 90ern ist ein permanenter Prozess zu beobachten, bei dem alle paar Jahre, meist irgendwo links der Mitte, ein neuer Begriff für die Menschengruppe “asylsuchende Migranten” geprägt wird (oder ein existierender Begriff neu auf diese angewendet wird, wie bei “Flüchtling”) – meist in dem Bestreben, sich von dem Mainstream-Begriff oder gar den “Rechten” abzuheben und einen “positiv besetzten” Begriff zu finden.
In den darauffolgenden Jahren wandert dieser Begriff dann unweigerlich langsam von links in den Mainstream ein und wird dann irgendwann auch von Rechten benutzt – zuerst meist ironisch, später dann ernst, aber immer abwertend. Spätestens dann ist es Zeit für einen neuen Begriff, der dann die Wanderung starten kann.
So hatten wir seit den 80ern: Ausländer –> Asylant (positiver, denn er sucht Asyl, d.h. braucht unsere Hilfe!) –> Asylbewerber (weg mit der bösen Endung “-ant”!) –> Migrant (es handelt sich um einen natürlichen Prozess, den wir akzeptieren müssen!) –> Flüchtling (positiv besetzt, denn “Flüchtlinge” kennt man aus dem Geschichtsunterricht oder gar der eigenen Familie, more relatable) –> Geflüchteter (weg mit der bösen Endung “-ing”!).
Bin schon gespannt auf den nächsten Begriff. Ich rechne damit, sobald die AfD anfängt, von “Geflüchteten” zu sprechen.