Ich muss ein Geständnis ablegen. Die Sache war mir eigentlich nie wirklich unangenehm, aber dieser Tage kommt die Erinnerung doch wieder hoch: Ich habe einmal eine Bibel gestohlen, damals im Katholischen Krankenhaus von Erfurt. Bei einer unachtsamen Straßenüberquerung hatte ich mir an einer heraneilenden Stoßstange die Kniescheibe gebrochen. Die Ärzte und Pfleger waren nett, die Bibel lag im Rollcontainer. Warum ich das gemacht habe, weiß ich nicht mehr. Sowieso ist die Sache schon 16 Jahre her.
Eine immer größer werdende Zahl von redaktionellen Sittenwächtern sucht unnachgiebig jede Aldi-Tiefkühltruhe nach Spuren migrantischen Fehlverhaltens ab
Der Vorfall von Herford ist nicht der einzige seiner Art. Vor allem seit Beginn der sogenannten Flüchtlingskrise häufen sich diese Zwischenfälle. Nein, nicht Muslime, die Kruzifixe abnehmen. Es häufen sich die Fälle, in denen Journalisten auch nach den kleinsten migrantischen Verhaltensauffälligkeiten fahnden. Mit der Sensibilität für religiöses Fehlverhalten, das sonst nur saudischen Religionspolizisten zu eigen ist, sucht in Deutschland eine immer größer werdende Zahl von redaktionellen Sittenwächtern unnachgiebig sämtliche Moscheen, Kitas und Aldi-Tiefkühltruhen nach immer belangloserer Anzeichen von Unvereinbarkeit mit einer erfundenen abendländischen Mehrheitskultur ab.
Neu ist dieses Phänomen freilich nicht. Die »Skandalberichterstattung« über den Anteil an Halal-Salami beim Discounter ist vor vielen Jahren auf rechten Islam-Hasser-Blogs erfunden wurden. Später drängte die schizophrene Parallelkultur aus den Hinterhöfen hinaus auf die Straßen (Pegida) und schließlich sogar in die Parlamente (AfD). Heute ist das Halluzinieren vor einer angeblich islamischen Überfremdung längst im Mainstream angekommen: Mindestens einmal pro Woche wird in irgendeiner Lokalzeitung das Ende staatlicher Neutralität verkündet, weil in der örtlichen Universität Spuren von Gebetsteppichen gefunden wurden. Wo auch immer ein Migrant vom Beckenrand ins Freibad springt oder eine Migrantin eben nicht ins Schulschwimmbad springen will, kann man sich sicher sein, dass irgendein Reporter umgehend einen Bruchlinienkonflikt im Sinne von Huntingtons »Kampf der Kulturen« ausmacht.
Die Liste jenes Kulturplunders, der von Titelseiten bis Feuilletons regelmäßig zum unveräußerlichen Kern abendländischer Zivilisation verklärt wird, ist so lang wie willkürlich
Alltägliche Vorfälle, die früher allenfalls schriftlich im Muttiheft für die Nachwelt festgehalten wurden, werden nun zu weltweiten Medienereignissen. “Switzerland Shocked” schrieb die “Washington Post“, als zwei muslimische Schüler ihrer Lehrerin nicht die Hand geben wollten. Die Liste jenes Kulturplunders, der von Titelseiten bis Feuilletons regelmäßig zum unveräußerlichen Kern abendländischer Zivilisation verklärt wird, ist so lang wie willkürlich: Zu wenig Schweinefleisch in der Kita? Zu viele Flüchtlinge in der Sauna? Hat da jemand “Winterfest” gesagt? Das Kopftuch muss ab! Die Vorhaut bleibt dran!
“Anti-Islam-Kurs”, “gegen das Grundgesetz”, “Ende der Religionsfreiheit” empörten sich viele in den vergangenen Tagen. Zu recht! Nein, nicht über die Islamberichterstattung vieler Medien. Medien empörten sich über den Islamkurs der AfD. Auch die WDR-Reporter waren dabei, als die AfD bei ihrem Bundesparteitag die Islamisierung halluzinierte.
Zur Sicherheit habe ich noch einmal nachgeschaut, was aus der der gestohlenen Grundlage unserer christlichen Wertekultur geworden ist. Die Bibel von damals ist leider verschwunden. Vielleicht habe ich sie irgendwann einmal auf einem Flohmarkt einem dieser türkischen Bücherverkäufer geschenkt. Das heilige Buch der Christenheit staubt jetzt womöglich zwischen einem SM-Roman und einer Häkelanleitung vor sich hin. Der WDR-Beitrag dürfte doch nicht mehr zu vermeiden sein.
[Das Aufmacherbild zeigt den Ort meiner Integrationsverweigerung:
das katholische Krankenhaus von Erfurt, abgebildet auf einer Postkarte von 1916.]
1 Kommentare On Der Tag, an dem ich zum Integrationsverweigerer wurde
Ich habe als Kind auch ein Kreuz von der Krankenhauswand abgenommen und in eine Schublade versteckt.