Palästinenser, Flüchtling, Messias… Warum Jesus schon immer Projektionsfläche war

Jude oder Christ? Nahost-Flüchtling oder Abendländ-Gründer? Alle Jahre wieder diskutieren wir über die Instrumentalisierung von Jesus. Dabei ist seine politische Vereinnahmung so alt wie der Heiland selbst.

Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Ok, schon der Wahrheitsgehalt dieses Evergreens muss hinterfragt werden. Denn sieht man einmal von Krippenspielen in Kirchen und Einkaufszentren ab, erlebt man Jesus Christus selbst dieser Tage ausgesprochen selten.

Allenfalls dort, wo er sich politisch vereinnahmen lässt, hat sich der Gottessohn eine Nische im öffentlichen Diskurs bewahrt: Mal ist es ein AfD-Tweet, der den nahöstlichen Juden zum Bewahrer eines weißen Abendlandes stilisiert. Ein andermal erwacht der Heiland auf Bildern in Insta-Accounts linker Gruppen zu neuem Leben: Als Fürsprecher einer liberalen Migrationspolitik.

Jesus zwischen den Fronten der Nahost-Debatte


Anlass für das wiederkehrende Jesus-Schisma in diesem Jahr: Ein Post von Renate Künast. Die Grünen Politikerin hatte auf X/Twitter den Journalisten Nils Minkmar zitiert, als sie schrieb:

An diesen Tagen feiern alle die Geburt eines palästinensischen Juden, dessen Eltern mittellos umherziehen. Danach geht wieder das Rennen darum los, wer am gnadenlosesten abschiebt und Migranten öffentlich wirkungsvoll drangsaliert.

Der Aufruf zu mehr Nächstenliebe im Migrationsdiskurs verhalte wirkungslos. Immerhin: „Wirkungsvoll drangsaliert“ wurden daraufhin zunächst nicht Migranten, sondern nur Künast selbst. „Renate Künast löst mit Tweet über ‚palästinensischen Jesus‘ Empörung aus“, titelte beispielsweise die Welt.

Auffällig an dem Kreis der Empörten: Dieser bestand vor allem aus Personen, die sich bisher eher weniger durch Achtung des Vermächtnisses von Jesus Christus als durch ihre Verachtung von Palästinensern einen Namen gemacht haben. Der Vorsitzender der Deutsch-Israelischen-Gesellschaft Volker Beck und andere störten sich vor allem vor allem an der Verwendung des bösen P-Wortes. Die anschließende Empörung über die “Instrumentalisierung von Jesus für die Migrationsdebatte” bestand dann vor allem aus Instrumentalisierung von Jesus für die Nahostdebatte.

Als ein syrischer Judenchrist Jesus erfand


Die Frage bleibt nun aber: Welche Instrumentalisierung ist die bessere? Wer hat Recht im alljährlichen Streit um Jesu Identität und politische Vermächtnis? Wer vertritt den “wahren” Jesus? Um das herauszufinden, müssen wir uns zu den Ursprüngen der Jesusgeschichte begeben.

Die Frage, ob diese in Nazareth oder Bethlehem, in Judäa oder Palästina beginnt, können wir dabei zum Glück elegant mit einem “weder noch” umschiffen. Stattdessen starten wir im heutigen Syrien. Etwa im Jahr 90 nach Jesu Geburt lebte wahrscheinlich in der Gegend um Antiochia ein Religionslehrer mit seiner kleinen judenchristlichen Gemeinde: der Evangelist Matthäus.

Judenchristen nennt man übrigens Gläubige, die zwar an den neuen Messias glaubten, anders als sogenannte Heidenchristen aber auch den alten jüdischen Geboten verpflichtet blieben. Und genau an diesem Spagat aus jüdischer Tradition und neuem Jesus-Glauben versuchte sich auch Matthäus, als er seiner Gemeinde von der Geburt des neuen Erlösers berichtete.

Schon damals stieß Matthäus dabei auf ein Problem, das auch heute noch viele Menschen nachempfinden können: Von Jesu Geburt und Kindheit wusste er eigentlich nicht viel. Schließlich war der Messias schon seit rund 60 Jahren tot und die maßgebliche Quelle zu seinem Leben – das Markus-Evangelium – schwieg sich zu seinen ersten Lebensjahren völlig aus.

Jungfrauengeburten waren für das damalige Publikum nichts Ungewöhnliches

Matthäus tat deshalb, was jeder gute Geschichtenerzähler macht: Er mischte Bewährtes und Spektakuläres. Wie in jedem zweiten Netflix-Film lieferte er den größten Kracher gleich zu Beginn:

Mit der Geburt Jesu Christi war es so: Maria, seine Mutter, war mit Josef verlobt; noch bevor sie zusammengekommen waren, zeigte sich, dass sie ein Kind erwartete – durch das Wirken des Heiligen Geistes.

Warum es ausgerechnet die fantastische Geschichte einer Jungfrauengeburt sein musste, ist leicht erklärt: Matthäus wollte zeigen, dass das Erscheinen Jesu keinen Bruch mit dem Alten Testament darstellte, sondern sich im Gegenteil zwangsläufig aus den alten Überlieferungen ergab. Und dort hatte der Prophet Jesaja nun einmal angekündigt, dass der Messias von einer Jungfrau geboren werde. 

Für das damalige Publikum dürfte die Story übrigens weit weniger unrealistisch geklungen haben als für heutige skeptische Ohren. Die sogenannte Theogamie kannte man bereits. In ägyptischen Überlieferungen schwängerte der Wind- und Fruchtbarkeitsgott Amun die jungfräuliche Königsgattin. In der griechischen Antike wurde Danaë mit Perseus schwanger, nachdem sie den Samen des Gottes Zeus als Goldregen empfangen hatte. Im Mythenreich des persischen Zoroastrismus gebaren Jungfrauen gleich drei Erlöser. Und auch Alexander der Große wurde der Legende nach von einer Jungfrau geboren. Selbst dem Alten Testament ist das Motiv nicht völlig fremd. Die Genesis erzählt vom Beischlaf zwischen Menschentöchtern und Gottessöhnen.

Mit der Geschichte der Geburt Jesu durch die Jungfrau Maria lehnte sich Matthäus also nicht so weit aus dem Fenster, wie man es heute glauben mag. Im Gegenteil: Er bediente sich eines literarischen Motivs, das sich von Persien bis Ägypten über Jahrhunderte bewährt hatte.

Lieber vom Heiligen Geist schwanger von einem römischen Soldaten

Dass diese fantastische Geschichte auch in den folgenden Jahrzehnten auf offene Ohren stieß, hatte aber noch einen ganz praktischen Grund: Man entledigte sich damit der schwierigen Frage nach der Vaterschaft Jesu. Noch bis ins zweite Jahrhundert hielt sich das Gerücht, Maria hätte sich in Wahrheit von einem römischen Soldaten namens Panthera schwängern lassen – und das während sie mit Josef schon verlobt war!

Der Messias ein uneheliches Kind einer Fremdgeherin und eines Besatzungssoldaten? Im Vergleich dazu wirkte die Geschichte von der Jungfrauengeburt harmlos.

Matthäus und seine Zeitgenossen wussten wie gesagt nicht viel über die Kindheit ihres Messias. Was sie wussten: Er musste aus Nazareth stammen. So hatte es unter anderem der Evangelist Markus berichtet. Das stellte Matthäus allerdings vor eine echte narrative Herausforderung. Denn schon lange zuvor hatte der alttestamentarische Prophet Micha berichtet, der Messias werde in der Stadt Davids geboren werden. Und das war Bethlehem.

Einmal Nazareth –> Bethlehem und wieder zurück

Etwa zur selben Zeit wie Matthäus löste der Evangelist Lukas den Widerspruch durch einen vergleichsweisen simplen erzählerischen Kniff. In der Version von Jesu Geburt, mit der Lukas sich an seine Gemeinde von Heidenchristen wandte, schickt er Maria und Josef von Nazareth zur Volkszählung nach Bethlehem. Matthäus holte hingegen weit aus und verfasste die Geschichte von den „Sterndeutern aus dem Osten“:

Als Jesus zur Zeit des Königs Herodes in Betlehem in Judäa geboren worden war, kamen Sterndeuter aus dem Osten nach Jerusalem und fragten: Wo ist der neugeborene König der Juden? Wir haben seinen Stern aufgehen sehen und sind gekommen, um ihm zu huldigen. (…) Und der Stern, den sie hatten aufgehen sehen, zog vor ihnen her bis zu dem Ort, wo das Kind war; dort blieb er stehen.

Die folgende Geschichte geht kurz gefasst so: Die Sterndeuter wollten eigentlich den römischen Machthaber Herodes über den genauen Ort von Jesu Geburt informieren. Doch im Traum werden sie davor gewarnt, zu ihm zurückzukehren. Denn dieser fürchtet die Konkurrenz des neuen Königs der Juden und lässt kurzerhand alle Kleinkinder Bethlehems töten. Hier könnte eine Analgoie zu heutigen politischen Ereignissen stehen… ach, es ist Weihnachten, lassen wir das.

Also: Gerade noch rechtzeitig warnt ein Engel Josef, der daraufhin mit seiner Familie nach Ägypten flieht und nach dem Tod von Herodes in seine Heimat zurückkehrt. Da nun aber der tyrannische Sohn des Herodes Archelaos über Bethlehem herrscht, lassen sich Jesus und seine Familie in Nazareth nieder.

Magier, Könige oder Weise? Und wenn ja wieviele?

Wegweisende Sterne, fremde Magier, Flucht vor einem Despoten: In seiner Erzählung bedient sich Matthäus gleich einer ganzen Reihe literarischer Motive und zeitgeschichtlicher Ereignisse. Vieles spricht dafür, dass die Figuren der „Sterndeuter“, die man auch als „Magier“ übersetzen kann, auf realen Personen basieren.

Der Begriff „mágos“, den Matthäus verwendet, wurde zu jener Zeit auch für zoroastrische Priester benutzt und eben solche sollen zu Matthäus Lebzeiten tatsächlich durch die Region gereist sein, um dem römischen Kaiser ihre Ehrerbietung zu machen.

Bis aus ihnen Könige wurden, dauerte allerdings noch bis ins dritte Jahrhundert. Die Umdeutung begann vermutlich mit dem Kirchenschriftsteller Tertullian. Dieser schrieb, die Magier seien fast wie Könige aufgetreten. Die Bezeichnung „Weise aus dem Morgenland“ kam noch einmal deutlich später hinzu: in Luthers Bibelübersetzung.

Auch die Angabe, dass es sich um drei Personen handelt, findet sich nicht in der Bibel. Vermutlich entstand sie in Anlehnung an die drei Geschenke Gold, Weihrauch und Myrrhe, die die Magier Jesus übergaben. Allesamt nicht unübliche Geschenke für antike Zeiten. Aber noch bis ins 19. Jahrhundert lassen sich auch Darstellung von vier oder zwei Königen finden.

Wenn etwas Wichtiges am Boden geschah, blitzte, funkelte oder verdunkelte sich ständig etwas am Himmel

Darüber, was es mit dem Stern auf sich hat, debattierten Gelehrte noch bis in die Neuzeit. Heute gelten alle Theorien, wonach hinter ihm ein reales astronomisches Ereignis steckte – wie z.B. der Halleysche Komet – als wissenschaftlich nicht haltbar.

Sicher ist hingegen: Die Idee, irdischen Ereignissen mittels kosmischer Erscheinungen zu überirdischer Relevanz zu verhelfen, war keine, die sich Matthäus neu ausdenken musste. Ob in Altägypten, Mesopotamien oder Persien: Wenn in den Legenden des Altertums etwas Wichtiges am Boden geschah, blitzte, funkelte oder verdunkelte sich häufig auch etwas am Himmel.

Auch die Antike kennt dieses Phänomen: Am ersten Todestag Julius Caesars soll ein Komet über sieben Tage geleuchtet haben und damit die Aufnahme der Seele des Kaisers in den Himmel bezeugt haben. Dem Alten Testament sind solche Geschichten ebenfalls nicht fremd: In der Prophezeiung des Joel heißt es: „Die Sonne soll in Finsternis und der Mond in Blut verwandelt werden, ehe denn der große und schreckliche Tag des Herrn kommt.“ Und rund 20 Jahre vor Matthäus ließ Markus als Ankündigung des Jüngsten Gerichts, Sterne vom Himmel fallen.

Eine Geschichte, die so mächtig ist, das sie auch 2000 Jahre noch Kirchenbänke füllt

Eine Frage nach den Ursprüngen der Weihnachtsgeschichte, kann der Blick ins Matthäus-Evangelium und in die literarischen Traditionen des Altertums allerdings nicht beantworten: Woher stammen Ochs und Esel? Von beiden ist im Neuen Testament keine Rede. Vermutlich kamen sie erst hunderte Jahre später hinzu. Im Pseudo-Matthäus-Evangelium, das wahrscheinlich Anfang des 7. Jahrhunderts entstand, heißt es:

Am dritten Tag nach der Geburt des Herrn verließ Maria die Höhle und ging in einen Stall. Sie legte den Knaben in eine Krippe, und ein Ochse und ein Esel beteten ihn an.

Historisch belegt – da sind sich Wissenschaftler heute einig – ist von all dem kaum etwas. Aber Matthäus ging es auch nicht um präzise Geschichtsschreibung. Zu Zeiten, in denen die Römer das religiöse Leben in der Region in eine tiefe Krise gestürzt hatten, wollte Matthäus mit seiner Geschichte zum Zusammenhalt seiner jungen Gemeinde beitragen.

Matthäus ging es mit seiner Erzählung von den frühen Lebensjahren Jesu um dessen Einbettung ins Volk Israel. Um die Aufrechterhaltung von Traditionslinien aus dem Alten Testament. Um den schwierigen Spagat zwischen neuem Messias-Glauben und Bewahrung alter jüdischer Gebote. Kurz: Indem er sich alter Traditionen bediente, wollte Matthäus neue Identität unter seinen Anhängern stiften.

Wen das an heutige Zeiten erinnert, hat nicht ganz Unrecht. Auch wenn Matthäus weder etwas mit liberaler Migrationspolitik, noch mit dem Krieg im Nahen Osten im Sinn hatte: Die Geschichte von Jesu Geburt und Kindheit war immer schon ein politisches Statement und das Matthäus-Evangelium gewissermaßen der Künast-Tweet seiner Zeit. Das klingt zwar etwas ernüchternd, hat doch aber auch etwas Versöhnliches.

Das Aufmacherbild zeigt “The Nazarene” von dem großartigen palästinensischen Künstler Sliman Mansour.

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