Am 22. Juli 2011 tötete ein norwegischer Rechtsextremist 77 Menschen. Seine islamfeindliche Motivation wurde von vielen Medien ignoriert, verharmlost oder entschuldigt. Erinnerungen an einen journalistischen Totalausfall.
77 Menschen starben, als ein islamfeindlich und rechtsextrem motivierter Attentäter am 22. Juli 2011 erst eine Bombe in Oslos Regierungsvierteil zündete und anschließend Teilnehmer eines sozialdemokratischen Jugendcamps auf der Insel Utøya erschoss.
In die Geschichte eingegangen sind die Anschläge von Oslo und Utøya aber nicht nur als opferreichsten rechtsextremen Anschläge in der jüngeren Vergangenheit Europas, sondern auch als eines der größten medialen Versagens: Monatelang boten Medien dem Täter jede erdenkliche Bühne zur Selbstinszenierung. Kaum eine Zeitung, die die eigens zu diesem Zwecke produzierten PR-Fotos des Täters nicht auf ihre Titelseite hob, umfangreich die Propaganda aus dessen “Manifest” zitierte. Über Monate schafften es Medien, aus jedem noch so trivialen Rechercheabfall eine Schlagzeile zu machen: Seine Pickel, sein Karotottenacker, sein Genitalerherpis.
Nur bei einer Sache schauten viele Medien dann doch nicht so genau hin: der islamfeindlichen Motivation der Tat. Im Gegenteil: Während die Jugendlichen auf der Insel Utøya noch vor dem Rechtsextremisten um ihr Leben rannten, klärten “Terrorexperten” im TV schon über dessen “islamistischen Hintergründe” auf. Selbst als kein Zweifel mehr an der rassistischen Motivation des Attentäters bestand, machten manche Kommentatoren noch Muslime und Linke als eigentlich Verantwortliche aus. Und einige Medienschaffende schafften es sogar, die Taten des Massenmörders zu entschuldigen.
Solang man nichts weiß, muss es ein Muslim sein
Als am 22. Juli um 15:25 Uhr eine Bombenexplosion Oslos Regierungsviertel erschütterte, herrschte – wie so oft in solchen Fällen – vor allem Ahnungslosigkeit: War es ein Unfall oder ein Anschlag? Gibt es ein oder mehrere Täter? Sind weitere Explosionen zu erwarten?
Dies hielt Medien allerdings nicht von wilden Spekulationen ab. Und die gingen – fast ausschließlich – in eine Richtung. “Das Nato-Mitglied Norwegen war in der Vergangenheit öfters Ziel von Drohungen des Islamisten-Netzwerks Al Kaida wegen seiner Beteiligung am internationalen Afghanistan-Einsatz”, heißt es schon 16:38 Uhr in einer Reuters-Meldung.
Als kurz darauf, Schüsse auf der Insel Utøya gemeldet werden und sich damit die Hinweise auf einen Anschlag konkretisieren, kennt das Spekulieren kein Halten mehr: Lag es an Norwegens Beteiligung am Afghanistan-Einsatz? An den Bomben gegen Libyens Machthaber Gaddafi? War die Einwanderungspolitik vielleicht doch zu liberal? Wurde die Bedrohung durch Al-Qaida unterschätzt? Hatten die Islamisten etwa Norwegen und Dänemark verwechselt und die Anschläge waren die Rache für die Mohammad-Karikaturen?
Eine völlig unvollständige Auswahl:
- Um 17:31 Uhr geht Spiegel Online von einem Al-Qaida-Anschlag aus. Der Grund: Rache für die dänischen Mohammed-Karikaturen fünf Jahre zuvor.
- Um 18:09 Uhr läuft über den Ticker der österreichischen Nachrichtenagentur APA eine Meldung mit dem Titel: „Anschlag in Oslo – Experte: Al-Kaida-Verbindung ‘sehr wahrscheinlich'”
- Unter der Überschrift “Rache für Tötung von Osama Bin Laden?“ tickert um 18:58 Uhr die Nachrichtenagentur dapd ein ausführliches Stück zu den vermeintlich islamistischen Hintergründen der Tat.
- Um 19:58 geht BILD in einem langen Beitrag alle Anschlagsoptionen durch: In allen Fällen sind Muslime schuld.
- Noch genauer weiß es die Tageszeitung Die Welt: Sie präsentiert (in einem weitgehend von Al-Jazeera abgeschriebenen) Beitrag noch am Abend den mutmaßlichen Täter: „Ein kurdischer Islamisten-Führer“ namens Mullah Krekar.
Selbst nachdem sich der Attentäter am Abend von norwegischen Polizisten festnehmen lässt und Informationen zu seiner Identität und Motivation nur noch eine Frage der Zeit sind, mutmaßen viele Medien weiter:
- Um 19:10 vermutet die Berliner Morgenpost “Rache für die Tötung von Osama Bin Laden” als Motiv der Tat.
- Um 20:41 Uhr geht die die Rheinische Post von “radikale Islamisten” als Tätern aus.
- Ab 21:59 Uhr erfahren Tagesspiegel-Leserinnen, “der Anschlag könne von radikalisierten moslemischen Einwanderern in Norwegen ausgeübt worden sein.”
- Um 22:00 Uhr erkennt man bei der Neuen Osnabrücker Zeitung die “Handschrift islamistischer Fanatiker”.
Auch bei den den Öffentlich-Rechtlichen verzichtet man an diesem Abend darauf, auf gesicherte Informationen zu warten. In der Tagesschau spekuliert auch „Terrorexperte“ und späterer ARD-Chefredakteur Rainald Becker vor einem Millionenpublikum über die „islamistischen” Hintergründe der Tat.
Islamfeindlicher Terror: Weil nicht sein kann, was nicht sein darf
Nicht bei jedem Redakteur, der am 22. Juli 2011 versagte, mögen die eigenen Vorurteile Schuld gewesen sein. Bei vielen dürfte es eher eine Mischung aus medialer Sensationsgier und journalistischer Inkompetenz gewesen sein.
Einige Wenige machten allerdings keinen Hehl daraus, dass ihnen ein muslimischer Attentäter nur allzu gut in die eigene politische Weltsicht passte. Von jeglichem Faktenballast befreit fand ein Redakteur der Fuldaer Zeitung die Schuld für das Attentat bei “muslimischen Zuwanderern” und der “liberalen Ausländerpolitik“ Norwegens:
Die Mitte-Links-Regierung mit Regierungschef Jens Stoltenberg an der Spitze hat im Gegensatz zur Regierung im benachbarten Dänemark auf eine liberale Ausländerpolitik und einen Dialog mit muslimischen Zuwanderern gesetzt. Nun muss sie bitter erfahren, wie ihnen ihre Liberalität gedankt wird. So sympathisch eine offene Gesellschaft ist — sie lässt eben nicht nur ihren gesetzestreuen Mitgliedern, sondern auch Kriminellen und Terroristen Freiheiten, die in etlichen anderen Ländern seit den Anschlägen von New York, London und Madrid teils drastisch eingeschränkt worden sind. Offensichtlich nicht ohne Grund. Diesem feigen Terrorpack mit Großzügigkeit zu begegnen, hieße, ein Feuer mit Benzin löschen zu wollen. Wer diesen Fanatikern versöhnlich kommen will, muss damit rechnen, dass ihm dies als Schwäche ausgelegt und skrupellos ausgenutzt wird.
Zugutehalten kann man dem Autor immerhin, dass er seinen Kommentar zu einem Zeitpunkt schrieb, als über die wahre Identität und Motivation des Attentäters noch nichts bekannt war. Das kann man von den folgenden Journalisten nicht sagen.
Zu einem Zeitpunkt, als die ganze Welt bereits wusste, dass nicht ein muslimischer Migrant, sondern ein weißer, christlicher, islamfeindlicher und antikommunistischer Rechtsextremist für die schlimmsten Anschläge in Norwegens Nachkriegsgeschichte verantwortlich ist, leugneten Kommentatoren immer noch die islamfeindliche Dimension er Tat.
Am 24. Juli schrieb ein Redakteur in Die Welt, es sei “unsinnig aus islamfeindlichen Einträgen des Massenmörders von Oslo in Internetforen” einen Bezug zu terroristischen Taten herzustellen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, machte der Autor den antimuslimischen Terror von Oslo und Utøya kurzerhand zu einer Art Spielart des islamistischen Terrors:
Die Gefahr aber, dass sich fanatische Randgruppen unter dem Vorwand der Angst vor der (Selbst-)Auslöschung des “christlichen Abendlandes” ihren islamistischen Antipoden – deren paranoiden Wahn sie in Wahrheit teilen – angleichen und ihre Methoden übernehmen könnten, ist nach dem Horror von Oslo nicht mehr von der Hand zu weisen. … Das Prinzip des islamistischen Terrorismus, möglichst viele unschuldige Menschen umzubringen, hat teuflische Maßstäbe der Aufmerksamkeitserregung in einer reizüberfluteten Mediengesellschaft gesetzt
In derselben Zeitung meldete sich drei Tage nach der Tat auch Henryk M. Broder zu Wort. Der Journalist hatte die zweifelhafte Ehre, der meistzitierte deutsche “Islamkritiker” in Breiviks Manifest zu sein. Seine Reaktion darauf: ein ziemlich peinlicher Text, in dem er die Verantwortung von Islamfeinden abstritt und stattdessen Islamisten zu den Stichwortgebern des Terroristen machte:
Ich weiß, ich vereinfache, ich versuche nur, mit der Gegenseite Schritt zu halten, die mit einer Schamlosigkeit sondergleichen versucht, sich einen moralischen Vorsprung zu verschaffen, indem sie die Verantwortung für einen Massenmord “Islamkritikern” von Ates bis Sarrazin, von Broder bis Wilders in die Schuhe zu schieben versucht. Umgekehrt wird ein Schuh daraus. … Breivik wusste, dass er seine Tat “rational” begründen muss. Und das hat er nicht bei mir und Thilo Sarrazin gelernt, sondern bei Mohammed Atta und Osama Bin Laden, bei den Attentätern von Madrid, London, Mumbai, Bali; bei Carlos, dem Schakal, und den “Märtyrern”, die ein Video aufnehmen, bevor sie ins Paradies aufbrechen.
Standing Ovations für eine Breivik-Verteidigerin
Was ist schlimmer als ein etablierter Journalist, der versucht, einen offenkundig islamfeindlichen Anschlag doch noch irgendwie Linken und Muslimen in die Schuhe zu schieben? Ein ganzer Saal voller solcher Journalisten.
Ayaan Hirsi Ali gehörte wie Broder zu jenen “Islamkritikerin”, aus deren Schriften sich Breivik bei der Legitimation seiner Tat umfassend bedient hatte. Als ihr rund ein Jahr nach den Anschlägen den Ehrenpreis der Axel-Springer-Verlages verliehen wurde, nutzte Hirsi Ali die Bühne für eine Verteidigungsrede: für sich selbst und Breivik. (Hier zum ganzen Video)
[Breivik] mag das Werk von jenen zitiert haben, die sich gegen den politischen Islam in Europa und Amerika aussprechen – mich eingeschlossen. Aber in seinem 1500 seitigem Manifest sagt er nicht, dass es diese Leute waren, die ihm zu Morden inspiriert haben. Er sagt ganz klar, dass es die Anwälte des Schweigens waren. Denn jeder Ausweg, seine Meinung zum Ausdruck zu bringen, wurde zensiert. Er sagt, er hatte keine andere Wahl als Gewalt einzusetzen.
Zu 10J #Utøya und #Oslo gehört auch die Dankesrede von #AyaanHirsiAli beim #AxelSpringerPreis, in der sie Breivik (und sich selbst) verteidigte und ein Saal voller etablierter Journos mit Standing Ovations reagierte. pic.twitter.com/bQVAIz0hUq
— Fabian Goldmann (@goldi) July 22, 2021
Wer diese “Anwälte des Schweigen” sein sollen, die rechtsextreme Terroristen zu Massenmorden nötigen, verriet Hirsi Ali nicht. Wer aber ihre sonstige Schriften kennt, weiß, dass auch sie sehr wahrscheinlich Linke und Muslime im Kopf hatte.
Der noch größere Skandal folgte aber erst kurz darauf. Als Ayaan Hirsi Ali an diesem Abend ihre Breivik-Verteidigung beendet hatte, gab es keine Buhrufe, niemand verließ aus Protest den Saal der Axel-Springer-Akademie. Stattdessen reagierte ein Publikum voller etablierter deutscher Medienleute mit Standing Ovations.
Entschuldigt haben sich die Verantwortlichen bei Springer für diese Verharmlosung der Anschläge von Oslo und Utøya übrigens bis heute nicht.
[Das Aufmacherbild zeigt die Titelseite der britischen “The Sun” vom 23.07.2011. Am Morgen nach dem tödlichsten rechsextremen Attentat in Norwegens Nachkriegsgeschichte berichtete die britische Tageszeitung über ein “Al-Qaida-Massaker”.]
So ein Text macht echt viel Arbeit. Wenn euch der Beitrag gefallen hat und ihr mehr Berichterstatttung über Islamfeindlichkeit wollt, würde ich mich freuen, wenn ihr Schantall und die Scharia finanziell unterstützt: einmalig via PayPal oder regelmäßig per Steady.
3 Kommentare On 10 Jahre Oslo, Utøya und die Medien: Keine Islamfeindlichkeit weit und breit
Der erste Buchstabe im Artikel ist und fett und groß. In diesem Artikel handelt es sich hierbei um eine Zahl, die 7. Die zweite 7 folgt dahinter klein. In diesem Fall wäre es meines Erachtens für das Verständnis sinnvoller, entweder siebenundsiebzig auszuschreiben oder die beiden Zahlen fett und groß zu schreiben, da zumindest bei mir ein kurzer Moment der Verwirrung aufkam.
Mit freundlichen Grüßen,
Gero
Danke für den Hinweis. Mach ich.
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