Als Saudi Arabien im Juni 2018 das Autofahrverbot für Frauen kippte, kamen viele Medien aus dem Jubeln nicht mehr heraus: Von der Tagesschau bis zu Autor Motor und Sport, von der New York Times bis Aljazeera bejubelten Medien weltweit die vermeintlich feministische Reform.
Westliche Korrespondenten ließen sich von weiblichen Chauffeurinnen durch saudische Vororte fahren. Aus tausenden Twitter-Kanälen lachten Gesichter zwischen Abaya, Hidschab und Lenkrad hervor. In Kommentarspalten wurde der weibliche Griff zum Lenkrad zur Metapher dafür, dass Frauen auch in anderen Lebensbereichen bald das Steuern übernehmen.
Ein feministischer Erfolg über das übelste Patriarchat der Welt – verantwortet von einem Mann: bin Salman. Bisher: Kronprinz und Verteidigungsminister von Saudi Arabien. In den Augen vieler westlicher Kommentatoren von nun an: Reformer, Protagonist des Arabischen Frühlings Saudi Arabiens, ja gar ein feministischer Revolutionär.
Nur Feministinnen konnten bei der vermeintlich feministischen Party nicht mitfeiern
Doch die Jubelfeier hatte einen kleinen Schönheitsfehler: Ausgerechnet jene, die sich seit Jahrzehnten für ein Ende des Autofahrverbots für Frauen eingesetzt hatten, konnten nicht mitfeiern. 17 politische Aktivistinnen und Aktivisten waren einen Monat vor der großen Party verhaftet worden.
Bis heute hält die selbst für saudische Verhältnisse beispiellose Verhaftungswelle an. Ihre Opfer: auffällig häufig weibliche Oppositionelle, wie die Frauenrechtlerin Eman al-Nafjan, eine der führenden Aktivistinnen für das Recht auf Autofahren und Herausgeberin des Saudi Women Weblog sowie die prominente Menschenrechtsaktivistin Loujain al-Hathloul. Verantwortlich dafür ist ausgerechnet ein Mann, den viele westliche Medien als feministischen Reformer feiern: bin Salman.
Nach wie vor können Männer Frauen das Autofahren verbieten
Die Verhaftung saudischer Frauenrechtlerinnen ist ein Beispiel von vielen, das zeigt, warum die Reformen bin Salmans weniger mit progressiven feministischen Ideen zu haben als mit der guten alten Machtpolitik und dem Ziel, das bestehende Herrschaftssystem zu sichern – inklusive der Rechtlosigkeit für Frauen.
Das zeigt auch der Inhalt des im September 2017 erlassenen Dekrets, nach dem es Frauen seit Juni nun gestattet ist, einen Führerschein zu beantragen und ein Fahrzeug zu lenken. Frauen wird es dort zwar erlaubt, ohne Beisein ihren männlichen Vormunds Auto zu fahren. Am System männlicher Vormundschaft, dessen Abschaffung saudische Frauenrechtlerinnen beständig fordern, ändert das Dekret nichts.
Nach wie vor ist in Saudi Arabien jeder Frau gesetzlich ein Mann beigestellt, der sie in den meisten Belangen rechtlich vertritt. Bei diesem Vormund (Wakheel) handelt es sich in der Regel um den Vater, den Ehemann oder den ältesten Bruder. Auch für den Fall, dass es keinen männlichen Verwandten gibt, haben die saudischen Herrscher vorgesorgt: In diesem Fall übernimmt der Gouverneur der jeweiligen Provinz die Vormundschaft.
Saudische Frauen können nur „selbstbestimmt“ leben, wenn ihr Mann es ihnen erlaubt
Frauen brauchen die Zustimmung ihres Vormunds bei fast jedem Kontakt mit staatlichen Stellen: wenn sie zur Schule gehen, studieren oder reisen wollen, wenn sie ein Gewerbe eröffnen. Nach wie vor unterschreiben Frauen in Saudi Arabien nicht ihren eigenen Ehevertrag. Sie können weder ihre Scheidung selbst initiieren, noch haben sie das Recht ihre Kinder nach der Scheidung zu behalten. Sie können allein keinen Pass beantragen und viele medizinische Behandlungen nicht ohne männliche Zustimmung in Anspruch nehmen.
Kurz: Sie dürfen nicht über ihr eigenes Leben bestimmen. Dass es einzelne saudische Frauen gibt, die dennoch ein scheinbar selbstbestimmtes Leben führen, liegt daran, dass ihr männlicher Vormund ihnen dies gestattet; nicht daran, dass sie wirklich unveräußerliche Rechte besäßen.
Die Vorstellung einer wahren Gleichberechtigung der Geschlechter ist für Saudi Arabiens Mächtige so fern wie eh und je. Zu keinem Zeitpunkt haben König Salman oder sein Kronprinz Mohammed bin Salman Frauen unterstützt, die nach gleichen Rechten riefen oder sich öffentlich selbst für Gleichberechtigung von Männern und Frauen ausgesprochen. Gelegenheit dazu hätten sie reichlich gehabt.
Frauenvergünstigungen sind Teil von bin Salmans PR-Kampagne
Auch wenn Saudi Arabien weit davon entfernt ist, eine politisch aktive Zivilgesellschaft zu besitzen, gibt es immer wieder Aktionen und Proteste, die sich für einen echten Wandel einsetzen. Im September 2016 initiierten saudische Frauenrechtlerinnen eine Petition mit 14.000 Unterschriften für die Abschaffung des Vormundschaftssystems. Die saudische Regierung reagierte schon damals, indem sie viele der Aktivistinnen ins Gefängnis sperrte.
Solche Verhaftungen gibt es laut Menschenrechtsorganisationen unter bin Salman mehr denn je. Dass Nachrichten darüber anders als Berichte über autofahrende Frauen, wiedereröffnete Kinos und den Ausbau erneuerbarer Energien nicht internationale Schlagzeilen machen, deutet darauf hin, worum es bin Salman bei seinen “Reformen” wirklich geht: Propaganda.
Nicht nur gegenüber innenpolitischen Kontrahenten ist ist das saudische Regime so repressiv wie nie zuvor: Die nun schon seit drei Jahren andauernde Bombardierung und Aushungerung der jemenitischen Zivilbevölkerung; die Unterstützung von Islamisten in Syrien; die Blockade Katars; immer mehr Hinrichtungen an politischen Aktivisten im Land, die Finanzierung reaktionärer Kräfte von Nigeria bis Indonesien… All das ist die Kehrseite der angeblichen Reformpolitik bin Salmans. Oder besser: Bilder Auto fahrender saudischer Frauen sind Teil einer PR-Kampagne, mit der er sich internationale Unterstützung für eine Politik sichert, die reaktionärer ist als je zuvor.
[Von einer einst engen Symbiose von Frauen und Transportmitteln in der islamischen Geschichte zeugt das Aufmacherbild. Buraq, das Pferd auf dem Mohammad der Legende nach in den Himmel flog, wird in einigen Überlieferungen als Frau beschrieben.]