Immer wenn der Strom nicht aus der Steckdose kommt, in Nahost ein Flächenbrand droht und wir die Sorgen der Bürger ernst nehmen müssen, stirbt irgendwo auf der Welt eine Aussage mit Substanz. Es gehört zur rhetorischen Grundausbildung eines jeden Politikers, auch den abgedroschensten Gemeinplatz mit einer Überzeugung vortragen zu können, als hätte er gerade Relativitäts- und Quantentheorie vereint oder stünde mit »Liberté, Égalité, Fraternité«-Wahlflyer am Fuß der brennenden Bastille.
Zuletzt bewies SPD-Chefin Andrea Nahles, dass sie diese Kunst beherrscht. »Wir können nicht alle bei uns aufnehmen«, hat sie den Redakteuren der »Passauer Neuen Presse« ins Diktiergerät gesprochen und damit die beispiellose Erfolgsgeschichte dieser migrationsfeindlichen Stanze fortgeschrieben. Mutmaßlich erstmals in lallender Form auf einem bierseligen Kameradschaftsabend ausgesprochen, gilt die Feststellung, dass wir nicht alle, halb Afrika oder die ganze Welt aufnehmen können, heute als unverzichtbar in der Floskelsammlung eines jeden Politikers, der in Migrationsfragen realpolitischen Sachverstand beweisen will: von Wolfgang Schäuble bis Joachim Gauck, von Horst Seehofer bis Martin Schulz, von Udo Voigt bis Boris Palmer.
“Selbstverständlich weiß Andrea Nahles, dass ihre Aussage in etwa so viel Realitätsbezug hat wie die Bekräftigung, dass die SPD nicht immer alle Wahlen gewinnen könne.”
»Na, aber stimmt doch«, schlagen manche Fäuste jetzt auf den Stammtisch. Richtig. Zumindest, wenn man sich völlig blöd stellt. So wie es dem Windkraftgegner nicht um eine Fehleranalyse der Elektroinstallation geht, steckt auch hinter Nahles Aussage mehr. Oder besser: weniger. Denn aller Wahrscheinlichkeit nach wollen diese »alle« gar nicht zu uns. Von den 67 Millionen Menschen, die derzeit weltweit auf der Flucht sind, kamen im vergangenen Jahr 186 644 nach Deutschland. Rechnet man noch die 1,17 Millionen Geflüchteten aus den beiden Vorjahren hinzu, kommt man immer noch nicht auf »die ganze Welt«, sondern auf rund zwei Prozent der weltweiten Flüchtlingsbevölkerung.
Selbst wenn man sich am Höchstwert der in Umlauf befindlichen unseriösen Schätzungen als Grundlage orientiert und weiterhin annimmt, dass das Mittelmeer mitsamt aller Frontex-Schiffe morgen verdunstet, sind wir noch weit von »alle« entfernt: Von 6,6 Millionen Menschen, die nach Europa flüchten wollen, berichtete die »Bild« vor rund einem Jahr in Berufung auf ominöse »Sicherheitskreise«. Gekommen sind sie nicht. Und selbst wenn sie es täten, ein Blick auf die Leistung wahrer Willkommensweltmeister wie Uganda und anderer Entwicklungsländer zeigt: Natürlich könnten wir sie aufnehmen, wenn wir wollten.
Aber zurück ins moralische Entwicklungsland der deutschen Sozialdemokraten.Selbstverständlich weiß Andrea Nahles, dass ihre Aussage in etwa so viel Realitätsbezug hat wie die Bekräftigung, dass die SPD nicht immer alle Wahlen gewinnen könne. Besser macht das die Sache nicht. Während erfahrene Überfremdungssprechautomaten wie Andreas Scheuer und Thilo Sarrazin mit 60 beziehungsweise 134 Millionen anstürmenden Flüchtlingen wenigstens halbwegs floskeltaugliche Zahlen herbeihalluzinieren, bemüht sich Nahles nicht einmal darum.
“Im letzten Jahr kamen weniger Flüchtlinge aus dem Maghreb nach Deutschland als die SPD wöchentlich an Wählern verliert.”
Die Forderung, die Maghreb-Länder als sicherere Herkunftsländer einzustufen, reicht ihr schon aus, um einen alten NPD-Kalauer gesellschaftsfähig zu machen. Im Jahr 2017 kamen von dort 4130 Menschen oder rund zwei Prozent der Asylsuchenden in Deutschland. Das ist wieder nicht halb, sondern circa eindreihunderttausendstel Afrika. Auch nicht die »ganze Welt«, sondern gerade einmal 0,00006 Prozent. Oder etwas anschaulicher: Im letzten Jahr kamen weniger Flüchtlinge aus dem Maghreb nach Deutschland als die SPD wöchentlich an Wählern verliert.
Was Nahles und ihre Vorgänger eigentlich meinen, wenn sie sagen »wir können«, ist: »ich will«. Und wenn sie sagen »nicht alle«, meinen sie »am besten keinen«. Was gegen diesen moralischen Flächenbrand hilft: von der Floskelwolke herunterkommen. Wenn das Niveau der Politikbegründung in der deutschen Flüchtlingsdebatte droht, zwischen NPD-Stammtisch und Hypochonder-Forum zu rangieren, sollte man klar und deutlich antworten: Doch, wir können alle aufnehmen! Das mag auch nicht ganz stimmen und noch weniger geschehen, nimmt die Sorgen dieser Welt aber wenigstens ernst.
Das Aufmacherbild zeigt die koranische Version von “Wir können doch nicht alle aufnehmen”, auch bekannt als “Tag des Jüngsten Gerichts”.
Geschaffen hat es der iranische Maler Mohammad Modabber wahrscheinlich irgendwann Ende des 19. Jahrhunderts. Heute hängt es im Reza Abbasi Museum in Teheran.