In irgendeinem moralisch integren Paralleluniversum fegte diese Woche ein Sturm der Entrüstung über Europa. Die deutsche Bundesregierung bestellte den französischen Botschafter ein. Die BILD titelte etwas von „Macrons Krieg gegen die Menschenrechte“. Und in einem Offenen Brief forderten Hunderte NGOs die französische Regierung auf, die Schließung einer der wichtigsten Menschenrechtsorganisationen des Landes rückgängig zu machen.
Stell dir vor, Frankreich greift beim Umgang mit Menschenrechtlern zu ägyptischen Methoden und keinen interresiert‘s.
Im Europa unseres Universums fielen die Reaktionen auf die Schließung von „Collectif contre l’islamophobie en France“ (CCIF) vom 2. Dezember hingegen verhaltener aus. Keine Solidarisierung, keine empörten Politiker, keine Twitter-Trends. Nichts.
Das Interesse ist so gering, dass ich nicht einmal einen guten deutschprachigen Text gefunden habe, den ich an dieser Stelle verlinken könnte. Deshalb hier kurz die Basics: Die französische Regierung nahm am am 19. Novembers die Ermordung des Lehrers Samuel Paty durch einen Islamisten zum Anlass, dutzende Moscheen, muslimische Schulen und andere Einrichtungen zu schließen. Darunter war auch CCIF.
Frankreichs Innenminister Darmanin begründete die Schließung mit dem Kampf gegen den “radikalen Islam” und „islamistische Propaganda“. Auch solche Instrumentalisierungen kennt man aus Ländern wie Ägypten. Organisationen wie Amnesty International und das European Network Against Racism wiesen die Vorwürfe zurück und solidarisierten sich mit CCIF.
Gegründet wurde CCIF im Jahr 2003, um gegen den zunehmenden anti-muslimischen Rassismus in Frankreich vorzugehen. Die Organisation klagte zum Beispiel gegen Kopftuchverbote an Schulen und Arbeitsplätze und bot Opfern von Übergriffen juristische Hilfe. Einmal im Jahr gab CCIF den Islamophobie-Bericht heraus.
Kritik hat CCIF schon immer auf sich gezogen. Nur waren es vor ein paar Jahren noch rechte Rassisten wie jene vom Front National, die die Schließung des Vereins forderten. Bezeichnend für den Wandel des Landes ist, dass es nun der “linke” Macron ist, der die kühnsten Träume von FN Wirklichkeit werden lässt.
Wie man ein Kriegsarsenal anlegt, ohne in den Knast gehen zu müssen
Wo wir gerade bei fehlender Aufmerksamkeit sind: Erinnert sich noch irgendwer an die Amokfahrt von Trier? Das Interesse an dem Angriff mit 5 Toten und 24 Verletzten scheint schlagartig abgenommen zu haben, sobald bekannt wurde, dass man den 51-jährigen männlichen deutschen Täter weder als „muslimisch“ noch als „Migrant“ labeln kann. Auch Distanzierungsforderungen an alle Autofahrer, Säufer oder Männer blieben aus.
Wie weit die Privilegien mancher Teile der Gesellschaft gehen, wurde diese Woche auch in einem anderen Fall deutlich. Dazu eine Textaufgabe:
Stell dir vor, du bist ein weißer, nicht-muslimischer Deutscher. Vor fünf Jahren hat die Polizei dutzende Maschinengewehre, Panzerfäuste, Landminen, hunderte Kilo Sprengstoff, über 10.000 Schuss Munition und allerlei Nazi-Devotionalien bei dir gefunden. Bei einer erneuten Razzia fand die Polizei in diesem Jahr wieder Waffen bei dir. Außerdem hast du illegal Waffen und Sprengstoffe an Typen in ganz Europa verkauft.
Frage: Wie viele Tage hast du bisher im Gefängnis verbracht.
Die Antwort: keinen einzigen.
Der NDR hat die unglaubliche Geschichte von Frederic F. aufgeschrieben, gegen den diese Woche nach fünf Jahren endlich vor dem Landgericht in Flensburg Anklage erhoben wurde.
Wenn Berlin an die frühere Diktatur Tunesiens erinnert
Weniger Verständnis als bei Frederics, die sich im Keller ein Kriegsarsenal anlegen, hat der deutsche Staat bei Moschee-Betreibern, die im Verdacht stehen, 14.000 Euro zu viel Corona-Hilfe beantragt zu haben. Da rückt dann schnell mal eine ganze Polizei-Hundertschaft an.
Die Geschichte von der Razzia in der Berliner Dar-Salam-Moschee hatten wir schon in den letzten Abendlandchroniken. Nun ist im Deutschlandradio noch ein interessanter Beitrag erschienen, in dem der Imam der Moschee zu Wort kommt: „Also so etwas habe ich nie erlebt in meinem Leben. Ich habe es in Tunesien in einer Zeit erlebt, wo Diktatoren herrschten.“ Auch der Anwalt der Moschee Jony Eisenberg (wen vertritt der eigentlich noch alles) findet deutliche Worte:
Es geht nicht um 14 Millionen oder 14 Milliarden, sondern um 14.000 Euro. Das ist aus meiner Sicht ein überschaubarer Betrag. Wenn wir früher Strafanzeigen erstattet haben, mit einem Schaden von 50-, 60-, 70-, 80-, 100.000 Euro, dann haben uns die Staatsanwälte müde angeguckt und gesagt, dafür haben wir keine Kapazitäten, da können wir nicht ermitteln, da kommen sie ganz hinten in die Reihe.
Wenn eine ganze Straße – und die Flughafenstraße ist eine wichtige Durchgangsstraße – wenn die über Stunden gesperrt wird, um ein Gotteshaus zu durchsuchen, da kann ich nur sagen, dann trägt das doch das Kainsmal des Rechtsmissbrauchs und der Unverhältnismäßigkeit so offen auf die Stirn geschrieben.
Gute BILD, schlechte BILD
Kommen wir von schlimmen Ereignissen, über die sich kaum jemand empört, zu belanglosen Ereignissen, über die sich viel zu viele empören und damit zum Bundesparteitag der Jusos.
Die Jugendorganisation der SPD hatte sich dort nämlich „mit Israel-Hassern solidarisiert“ . So schrieb es jedenfalls die BILD. Alle Falschdarstellungen, Irreführungen und unterschwelligen Rassismen des Textes zu diskutieren, würde schon eine ganze Abendlandchronik füllen. Andererseits: Es ist die BILD. Wer glaubt den Scheiß schon?
Offenbar ziemlich viele. Unzählige seriöse Medien griffen die Story auf. Die dazugehörigen Hashtags bestimmten zwei Tage die Twitter-Trends. Und das obwohl BILD-“Recherchen“ dort bis vor Kurzem allenfalls in Kombination mit dem Hashtag #drecksblatt oder #haltdiefressebild verbreitet wurden. Aber in in Sachen moralische Empörung hat die Twitter-Community leider die Aufmerksamkeitsspanne eines Goldfischs.
Dass manche Tweeps sich in diesem Fall eine Auszeit von der BILD-Skepsis genommen haben, mag auch daran liegen, dass die Jusos-Fatah-Geschichte das eigene Klischee vom antisemitischen Palästinenser einfach zu gut bediente.
Auf die Idee, die Geschichte zu hinterfragen, sich zum Beispiel den entsprechenden Antrag der Jusos mal durchzulesen, kamen nur Wenige. Der ist zugegebenermaßen auch ziemlich lang. Eine kürzere Version bietet der Thread von Juso Leo Schneider.
Aufschlussreich ist auch was Islamwissenschaftler Christoph Dinkelaker im Interview mit Susanne Knaul in der taz zum Thema sagt:
Aus meiner Sicht ist das aber vielmehr Ausdruck für die schrumpfenden Räume, in denen man sich zum Thema Israel-Palästina bewegen kann. Es geht um eine Veränderung in Deutschland, nicht um ein grundlegendes Ereignis, das sich in Israel oder Palästina abgespielt hätte. Spannend ist, dass hier Deutsche mit Deutschen streiten. Israelische und insbesondere palästinensische Perspektiven spielen überhaupt keine Rolle.
Was 3000 Briefe über den Umgang mit den Opfern rechter Gewalt in Deutschland aussagen
Wo wir gerade bei den Abgründen innerdeutscher Debatten sind. Kürzlich jährte sich der rassistisch motivierte Brandanschlag von Mölln, bei dem am 23. November 1992 drei Menschen starben und neun teils schwer verletzt wurden.
Der Jahrestag ist schon ein paar Tage her, aber erst diese Woche ging ein Interview mit einem der Überlebenden viral. Ibrahim Arslan erzählt dort die unglaubliche Geschichte, wie die Stadt Mölln über 27 Jahre 3000 Solidaritätsbriefe an seine Familie zurückhielt. Darunter Wohnungsangebote, Geldspenden, Kinderzeichnungen und Schreiben von Holocaustüberlebenden.
Nur durch eigene Initiative entdeckte Arslan die Briefe im Stadtarchiv, über deren Existenz er und seine Familie nie informiert wurden. Eine traurige und bezeichnende Geschichte über den Umgang mit den Opfern rassistischer Gewalt in Deutschland.
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